Wo Odin sich Rat holt – Eine Annäherung an Mímir und Odins Auge im Brunnen

von Kurt Oertel

1. Die Quellen

Bekanntlich hat Odin eines seiner Augen als „Pfand“ in Mímirs Brunnen hinterlegt. Wofür genau dies als Pfand dienen soll, wird nirgendwo deutlich, es scheint viel mehr eher als Preis dafür verstanden zu werden, dass Odin einen Schluck aus diesem Brunnen nehmen durfte, wodurch ihm Weisheit und Wissen zuteil wurde. Nüchtern betrachtet ist das ein recht seltsamer Handel, denn welchen Gewinn oder Nutzen soll Mímir davon haben, dass Odins Auge nun in dem Brunnen ruht? Gänzlich unverständlich wird die Sache aber, wenn man dann noch erfahren muss, dass Mímir ausgerechnet „Odins Pfand“ – also sein Auge – als Trinkgefäß benutzt, Was soll das nun wieder bedeuten?

Wie bei solchen Fragen üblich, sollten wir uns zunächst den Quellen über Mímir selbst zuwenden, was in diesem Fall ihrer übersichtlichen Spärlichkeit wegen schnell erledigt ist. In der Ynglinga saga berichtet uns Snorri Folgendes:

„Odin zog mit einem Heer gegen die Wanen, aber die waren gut gerüstet und verteidigten ihr Land, und so siegte bald dieser, bald jener. Beide verheerten des anderen Land und fügten sich gegenseitig Schaden zu. Doch als sie des Streits überdrüssig wurden, verabredeten sie eine Zusammenkunft, um sich zu versöhnen. Sie schlossen einen Friedensvertrag und stellten gegenseitig Geiseln. Die Wanen gaben ihre Edelsten: Njörd den Reichen und seinen Sohn Frey; die Asen aber sandten einen Mann namens Hönir. Sie sagten, er eigne sich sehr wohl zum Häuptling, denn er war groß und sehr schön. Mit ihm sandten die Asen Mimir, einen sehr weisen Mann, und die Wanen stellten dafür den Klügsten aus ihrer Schar, der Kvasir hieß. Als nun Hönir nach Wanenheim kam, machte man ihn dort gleich zum Häuptling; Mimir aber beriet ihn in allem. Befand sich Hönir aber auf einem Thing oder in einer Versammlung und Mimir war nicht in der Nähe, so antwortete er, sobald es um schwierige Fälle ging, stets in der gleichen Art: „Andere sollen entscheiden!“ sagte er dann. Da argwöhnten die Wanen, die Asen könnten sie beim Männeraustausch übergangen haben, ergriffen Mimir, schlugen ihm den Kopf ab und sandten diesen zu den Asen. Odin nahm das Haupt, bestrich es mit Kräutern, sodass es nicht verwesen konnte, sprach Trollsprüche darüber, und verlieh ihm dadurch solche Macht, dass es zu ihm redete und mancherlei Verborgenes verriet. (Kap. 4) […] Stets hatte Odin Mimirs Haupt bei sich, und das sagte ihm mancherlei Neuigkeiten aus anderen Welten.“ (Kap. 7).

In Kap. 14 seiner Edda berichtet derselbe Verfasser:

„Doch unter jener Wurzel, die sich zu den Reifriesen wendet, befindet sich der Mimirbrunnen, in welchem Klugheit und Verstand verborgen sind; und der Besitzer des Brunnens heißt Mimir. Er ist voller Weisheit, weil er aus dem Brunnen trinkt mit dem Gjalllarhorn. Dorthin kam einst Allvater und erbat sich einen Trunk aus dem Brunnen; aber er bekam ihn nicht, bevor er eines seiner Augen als Pfand hinterlegt hatte. So heißt es in der Völuspa:

Wohl weiß ich, Odin,
wo du dein Auge bargst,
in dem berühmten
Mimirbrunnen.
Met trinkt Mimir
jeden Morgen
aus Walvaters Pfand.“

In dieser Darstellung vermeidet Snorri jegliche Erwähnung Mímirs als abgetrennten Kopf – und zwar offensichtlich ganz bewusst, denn in seiner Nacherzählung der Völuspá ändert er die Zeile „Odin murmelt mit Mimirs Haupt“ zu „Dann reitet Odin zum Mimir-Brunnen und holt Rat bei Mimir“, obwohl er kurz darauf die entsprechende Originalstrophe korrekt zitiert (Kap. 51). Dass er dabei die Völuspá nacherzählt, und nicht etwa eine andere Quelle, wird dadurch klar, dass er danach mit dem Erzittern des Weltenbaumes fortfährt, genau wie die Völuspá.

Über diese zwei erzählenden Stellen hinaus gibt es nur noch wenige und sehr verstreute Verbindungen zu Mímir. Die einzige weitere Erwähnung Mímirs in der Lieder-Edda findet sich in Sigrdrífumál 13-14, wobei sich eine solche in Str. 13 allerdngs nur vermuten lässt:

„Sinnrunen sollst du kennen,
wenn du geistesstärker sein willst,
als jeder [andere] Mann.
Es deutet sie, es ritzte sie,
es erdachte sie Hroptr,
aus der Flüssigkeit,
die getropft ist
aus Heiðdraupnirs Schädel
und aus Hoddrofnirs Horn.“

Hroptr ist ein auch anderweitig belegter Odinsname, die Namen Heiðdraupnir (Klar-Tropfer) und Hoddrofnir (Schatz-Reißer) dagegen tauchen nur hier auf. Da der Zusammenhang der Stelle sich auf das Runenweistums Odins bezieht, wurde hier die Darstellung des Gottes vermutet, wie er den Trank aus Mímirs Brunnen der Weisheit zu sich nimmt, der ihn danach erst zum Finden der Runen befähigt habe. Deshalb wurden beide Begriffe auf Mímir bezogen – wohl auch wegen der Ähnlichkeit zu dem Namen Hoddmimir (Schatz-Mímir) in Vafþrúðnismál 45 (den man wiederum auf den Schatz verborgenen Weistums Mímirs bezog, oder vielleicht auch auf die tatsächlichen Reichtümer, deren Hüter er sein könnte). In Heiðdraupnirs Schädel (vermutlich Mímirs Kopf) und Hoddrofnirs Horn (vermeintlich das Gjallarhorn) vermutete man somit die dem Brunnen zugehörigen Trinkgefäße,1 derer Odin sich bei diesem mythisch zentralen Akt bediente, um sich diese wertvolle Flüssigkeit einverleiben zu können.

Gegen diese phantasievolle Deutung hat aber Klaus von See sehr ernüchternde Einwände vorgebracht:

„Hörner werden zwar als Trinkhörner und Schädel gelegentlich als Trinkschalen verwendet […], doch deutet nichts darauf hin, dass sich hauss (Schädel) hier auf etwas anderes als einen Schädel als Körperteil bezieht. Eine Identität von Heiðdraupnirs Schädel mit Mímirs Kopf ist unplausibel: Sie hätte zur Folge, daß Odin aus Mímirs Kopf tränke, der auch zu ihm spräche. Aufgrund der parallelen Ausdrucksweise wäre dann das Horn Hoddrofnirs als Horn auf einem Tier zu deuten. Grm. 26 bietet einen Beleg für das Motiv, daß Flüssigkeit aus dem Horn eines mythischen Tiers (Hirsch) trieft: Dieser Hirsch mit dem Namen Eikþyrnir steht auf Odins Halle und äst von den Zweigen eines mythischen Baumes, und von seinen Hörnern tropft es in Hvergelmir hinein, von dort nehmen alle Gewässer ihren Lauf. Von den Hörnern dieses Hirsches stammt also die Flüssigkeit, aus der sich alle Flüsse speisen.“2

Andererseits hatte man hinter dem Begriff „Heiðdraupnirs Schädel“ aber auch die Vorstellung zu sehen versucht, dass von Mímirs Kopf das Wasser seines Brunnens tropft, wenn er sich daraus erhebt, und dass man sich diese Flüssigkeit nicht bloß als Wasser, sondern als den magischen Met der Weisheit dachte, denn Völuspá 28 erwähnt, dass Mímir Met trinkt, und das Element heið- kann auch für „klaren Met“ stehen.3 Zu der Frage, ob es sich bei dem Trunk aus Mímirs Brunnen denn nun um Wasser oder Met handelt, erklärt die amerikanische Religionswissenschaftlerin Kris Kershaw:

„Selbstverständlich ist es Met und nicht Wasser, was Mimir aus Odins Pfand trinkt, aber es scheint nicht problematisch, daß Met aus einer mythischen Quelle fließt, und schließlich ist Odin derjenige Gott, der den Dichtermet für Götter und Menschen errungen hat und ihn verteilt. Bedenken wir all das, wofür der indoeuropäische Dichter stand: Der Trunk verleiht kein Talent zum Versemachen, sondern inspirierte Weisheit, göttliche Wahrheit. Der Gewinn des inspirierenden Trunkes ist ein indoeuropäisches Erbe, aber die Inspiration ist Odins Anteil, mit Met oder ohne.“4

Die unmittelbar darauf folgende Strophe 14 ist leider nicht weniger rätselhaft

„Auf dem Berg stand er
mit den Schneiden des Schwertes,
hatte einen Helm auf dem Kopf;
da sprach Mimirs Kopf
kundig das erste Wort
und sagte wahre Stäbe.“

Bedeutet dies lediglich, dass Odin (wenn es sich trotz des für ihn gänzlich unüblichen Schwertes denn überhaupt um ihn handelt) Mímirs Kopf in einer Krisensituation befragt, wie in der Völuspá? Oder wird hier angedeutet, dass er selbst Mímir soeben enthauptet hat und der Kopf nun erstmals zu ihm spricht? Und wenn das gemeint sein sollte, gibt es dann eine Verbindung zu Grímnismál 50? Dort brüstet sich Odin:

„Sviðurr und Sviðrir hieß ich bei Sökkmimir,
als ich den alten Riesen überlistete,
und ich allein tötete Miðvitnirs berühmten Sohn.“

Dazu abermals Klaus von See:

„Nach allgemeiner Auffassung bezieht sich die Wortfolge in Str. 14 auf Odin, der also den Worten lauscht, die von Mímirs Kopf gesprochen werden […]. Odins Auftreten mit Helm und Schwert hat ein kriegerisches Gepräge und deutet eine kriegerische Situation an, für deren Hintergrund die Strophe aber keine Erklärung bietet. In dieser Situation empfängt Odin Mímirs Mitteilung über die mythischen Runen, und zwar von ‚Mímirs Kopf‘. Vsp. 46 bietet hier eine auffallende Parallele. Mit Mims hofuð [Mímirs Haupt] redet Odin, als Heimdallr mit dem Stoß ins Gjallarhorn das Warnsignal gibt, daß die Weltuntergangszeit begonnen hat. Weder Sd. 14 noch Vsp. 46 erklären den Hintergrund von ‚Mímirs Kopf‘, doch ist wohl kaum davon auszugehen, daß die Schilderung des bewaffneten Odins und die anschließende Erwähnung von Mímirs Kopf in Sd. 14 andeuten soll, daß Odin Mímir enthauptet habe […]. Gegen ein solches feindseliges Verhältnis zwischen Odin und Mímir spricht die Bezeichnung Odins als Mímmis vinr [Mimirs Freund] in Egills Sonatorrek. Odins Auftreten in Bewaffnung, als er Mímirs Mitteilung über die mythischen Runen empfängt (Sd. 14), deutet wohl eine Krisensituation an, bei der Odin Mímirs Wissen einholt, wie er dies bei der anbrechenden Weltuntergangssituation tut (Vsp. 46) […]. Die Erwähnung von Mímirs Kopf als Sprecher oder als Odins Gesprächspartner (Vsp. 46) impliziert, daß nur der Kopf – und nicht der ganze Körper – Mímirs vorhanden ist.“5

Mehr kann man der Stelle tatsächlich nicht entnehmen, will man nicht in haltlose Spekulationen abgleiten, für die es im Text selbst keine Grundlagen gibt. Für ein weiteres Verständnis der Zusammenhänge hilft sie also nicht weiter, und auch Snorri hat die beiden Strophen nicht verwendet, möglicherweise deshalb nicht, weil sie auch ihm bereits nicht mehr ganz durchsichtig waren (oder weil er sie einfach nicht kannte).

Der Vollständigkeit halber seien hier noch die wenigen weiteren eddischen Zusammenhänge genannt: der Name Sökkmímir (d.h. Mímir der Tiefen), wohl auf einen Riesen bezogen, den Odin aufsuchte (Grímnismál 50, dem dortigen Zusammenhang nach auf der Suche nach dem magischen Met), die Namen Mímameiðr (Fjölvinnsmál 10-22) und Hoddmímis holt (Vafþrúðnismál 45), die beide auf den Weltenbaum bezogen werden und wobei der letztere „Schatzmímirs Holz“ bedeutet.

Darüber hinaus wurden bezüglich Mímirs folgende Namensverbindungen vermutet: Mimigernaford (der altsächsische Name für Münster /Westf.), Mimileba (das heutige Memleben an der Unstrut), das Flüsschen Miming im Odenwald, der schwedische Mimes sjö (Mimirs See) und Mimes å (Mimirs Bach). Wolfgang Golther führt noch auf:

„Die deutsche Heldensage (Biterolf 124 ff.) gedenkt eines klugen Schmiedemeisters, der zwanzig Meilen hinter Toledo saß, Mime geheißen. Der schuf die besten Schwerter, die auf der Welt zu finden waren. Wielands Schwert Miming, das Witige führte, war Mime zu Ehren so geheißen. In der Thidrekssaga ist Mimir der Lehrmeister Sigfrieds. Saxo erwähnt noch einen Waldgeist (Mimingo silvarum satyro), der wunderbare Geschmeide, Schwert und Armring besitzt. Mimir in den nordischen Quellen ist Riese. In der Heldensage aber erscheint er als Zwerg und kunstfertiger Alb. Elbische und riesische Wesen gehen ja häufig ineinander über.“6

Die Aussagen der Quellen lassen sich so zusammenfassen: Zum einen wird Mímir als Ase dargestellt, der bei dem Geiselaustausch zu den Wanen wechselt und dort enthauptet wird. Zum anderen ist er der Hüter eines Brunnens, der den Andeutungen nach im Riesenreich liegt. Da sein Name auch in Aufzählungen von Riesennamen auftaucht, ist er dieser Vorstellung nach also ein Riese. Und er scheint auf gewisse Weise eng mit dem Weltenbaum verbunden, da sein Name auch in Benennungen des Baumes mit einfließt.

2. Die ältere Forschung

Die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen, die ärgerlicherweise ja auch noch demselben Verfasser – nämlich Snorri Sturluson – entstammen, hat der Forschung verständlicherweise große Probleme bereitet. Etliche Wissenschaftler empfanden es deshalb als unmöglich, diese Gegensätze in Einklang zu bringen, sodass gerade die ältere Forschung hier zeitweise von zwei völlig unterschiedlichen Figuren ausgegangen ist, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten.7 Tatsächlich wird das Verständnis dieser rätselhaften Figur auch noch dadurch erschwert, dass ihr Name in drei unterschiedlichen Formen vorkommt: Mímr, Mími und Mímir, was Jan de Vries als bedeutsam empfindet, was wahrscheinlich aber nur den Notwendigkeiten des Versrhythmus entspringt. De Vries geht zwar nicht mehr von gänzlich unterschiedlichen Figuren aus, vermutet aber ebenfalls noch, dass hier ganz Unterschiedliches zusammengeflossen ist:

„Vielleicht dürfen wir die Verschiedenheit so erklären, daß ein weiser Riese, der besondere Kenntnisse besaß (wie Vafþrúðnir), den Namen Mím(i)r hatte; bei der Ausbildung seines Mythus hat man entweder an das Motiv des weissagenden Kopfes oder an die Vorstellung der Orakelquelle angeknüpft.“8

Andere erwägen, er sei ursprünglich ein Wassergott gewesen und der Begriff „Mímirs Haupt“ in der Völuspá bezeichne den Brunnen- oder Quellenkopf, also die Stelle, an der das Wasser austritt. Diese Umschreibung sei später wörtlich verstanden worden, und die Erzählung von dem mumifizierten und weissagenden Kopf sei aus alten Erinnerungen an archaische Kopfjagd und nekromantische Praktiken entstanden. Auch wurde erwogen, Mímir lebe körperlich unversehrt in dem Wasser des Brunnens und erhebe bei seinen Prophezeihungen lediglich den Kopf aus dem Wasser.9 Golther geht von einem gemeingermanischen Wasserriesen aus, dessen ursprünglichen Namen er als Mimiaz oder Mimio erschließt, und interpretiert ihn auf sehr eigene Weise:

„Tiefe Weisheit ist überall mit diesem Wesen verknüpft. Seine Behausung ist Wald und Wildnis. Gewässer sind nach ihm benannt. Im Norden ist er von der Quelle unzertrennlich. Beherrscher der Gewässer ist Mimir wohl schon von Anfang an. Seen, Flüsse, Wälder und Bäume, die mit seinem Namen in Verbindung stehen, belehren, dass wir keinen Meerriesen, sondern den Herrn der Binnengewässer vor uns haben. Damit treten wir der Urgestalt des Mimiaz näher. Die Germanen dachten sich darunter einen urweisen Wasserriesen, der im geheimnisvollen Dunkel tiefer Haine an murmelnden Quellen oder zauberisch wallenden Bergseen zu Hause war. Seine Söhne, die Flüsse, strömen zu den Menschen. Wer ihrem Ursprung nachging, bis in die Nacht des Urwalds zum geheiligten Baume, aus dessen Wurzeln der Quell hervorsprudelte, wo Mimir sein Haupt barg, der stand am Urquell allen Wissens.“10

Auch Richard M. Meyer geht von einem ursprünglichen „Geist der still rauschenden Waldquelle“ aus:

„Rekapitulieren wir, so scheint es sicher, daß Mimir ein gemein-germanischer kollektiver Geist der wahrsagenden Waldquellen war, und daß er erst im Norden zum geistigen Schwerthalter und Büchsenspanner Odins wurde. Wahrscheinlich mußte der höchste Gott ihn zum ersten Öffnen des Mundes zwingen, wie Proteus und andere prophezeiende Wassergeister durch Gewalt zum Reden gebracht werden müssen: Odin stand auf dem Berg (wo die Waldquelle entspringt?) in voller Rüstung und bedrohte den Geist wie Skirnir die Gerd mit dem Schwert bedroht.“11

[Letzteres bezieht sich auf die oben zitierte Strophe aus Sigrdrífumál].

Wilhelm Grönbech kann – seinem Forschungsansatz gemäß – in dem gesamten Mythos nur eine Widerspiegelung kultischer Praktiken erkennen:

„Die Weisheit, die durch das Blót geschaffen wurde, war in den heiligen Gewässern unter dem Baum verborgen; gute Ratschläge, Weissagungen und Wahrzeichen flossen aus der Quelle und wurden durch kultische Mittel aufgespeichert; aus der Quelle wurde das Schicksal geboren oder, in mythischer Vermenschlichung, die Nornen, die Hamingjas, die den Menschen Zukunftsheil geben. Diese Weisheit oder Macht der guten Weissagung war vertreten durch Mimir, den Berater Odins. Manchmal erscheint Mimir als ein Haupt, und ein Mythos, den Snorri wiedergibt, erklärt, wie es kam, daß sein Haupt von seinem Körper getrennt und zum Zwecke der Weissagung bewahrt wurde. Die Sage ist in einer kultischen Tatsache begründet: ein weissagendes Haupt – das entweder in dem Schädel des Opfertieres oder im Kessel oder noch wahrscheinlicher in beiden Symbolen vermutet werden kann – stellte Mimir, die Macht der Weisheit, dar. Mimirs Quelle, der Bierbottich, bildete den Mittelpunkt in einem kultischen Auftritt, auf welchen der Vers der Völuspa hinweist, und ebenso die belehrende Prosa der jüngeren Edda, wo Odin sein Auge verpfändet, um Weisheit zu erlangen. Da aber die Überlieferung so aberissen ist und uns jede Vergeichsmöglichkeit fehlt, sind alle Versuche, den kultischen Vorgang wiederherzustellen, von vornherein verfehlt.“12

All diese alten Erklärungen erwecken verdächtig den Eindruck bewusster Vereinfachung, die deshalb heute auch wenig überzeugend wirken – vor allem, wenn man die Schriftquellen selbst als Maßstab anlegt. Wenn „Mimirs Haupt“ lediglich „Brunnenkopf von Mimirs Quelle“ bedeuten würde, bleibt unverständlich, wie Odin mit ihm reden und es selbst sprechen könnte. Die einzige Erklärung dafür wäre dann die Annahme einer Orakelpraxis, die auf den Geräuschen des sprudelnden Wassers beruhte. Es gibt aber nicht den geringsten Hinweis darauf, dass solch eine Praxis im heidnischen Norden bekannt war oder praktiziert wurde.

Ist es also möglich, eine Erklärung zu finden, die einerseits die Widersprüche besser auflöst ohne sich dabei andererseits zu weit von den wörtlichen Aussagen der Quellen zu entfernen? Um uns einer solchen Erklärung zumindest annähern zu können, müssen wir die zwei Motivkomplexe des Kopfes und des Auges in der Quelle getrennt voneinander betrachten, können dabei aber glücklicherweise auf vielfältige neuere Befunde zurückgreifen, die der älteren Forschung (und somit auch dem Wissensstand heutiger Heiden) noch nicht zugänglich waren.

3. Der Kopf in dem Brunnen

Bei diesem Motiv müssen wir den Blick zunächst auf den gut belegten keltischen Kopfkult richten, der zumindest für die Gallier gleichermaßen archäologisch wie literarisch nachweisbar ist. Sie waren leidenschaftliche Kopfjäger, die die Köpfe ihrer getöteten Feinde einbalsamierten und um so höher in Ehren hielten, je namhafter der Getötete war:

„Die Köpfe der gefallenen Feinde hauen sie ab und binden sie ihren Pferden um den Hals; die blutige Rüstung geben sie ihren Dienern und lassen sie unter Jubelgeschrei und Siegesliedern zur Schau tragen. Zu Hause nageln sie dann diese Ehrenzeichen an die Wand, gerade als hätten sie auf der Jagd ein Wild erlegt. Die Köpfe der Vornehmsten unter ihren Feinden balsamieren sie mit Zedern-Öl ein, bewahren sie in einem Kasten sorgfältig auf und zeigen sie stolz Fremden. Manch einer rühmt sich, für diesen Kopf habe man einem seiner Vorfahren, seinem Vater oder ihm selbst viel Geld geboten, aber er habe ihn nicht weggegeben, selbst dann nicht, wenn man das Gewicht des Kopfes mit Gold aufzuwiegen anbot.“13

Das Abschlagen von Köpfen war jene keltische Tradition, über die Römer und Griechen sich gleichermaßen empörten, weil das für sie religiös wie moralisch eine Entweihung der Toten darstellte, und etliche Quellen belegen den Abscheu der Römer gegenüber dieser Sitte bei ihren gallischen Soldaten, an die sie sich im Lauf der Zeit aber zwangsläufig gewöhnen mussten.14 Diese grausame Praxis dürfte mehreren Zwecken gedient haben, am deutlichsten natürlich dem konkreten Beweis für den Mut eines Krieges beim Besiegen des Gegners. Derartige Trophäen waren wohl überaus prestigeträchtig. Daneben mag die Kopfjägerei religiöse Grunde gehabt haben: Nach keltischem Glauben (und heutiger Erkenntnis) wohnte der Geist des Menschen im Schädel, und mit dem Besitz des Schädels eines Feindes glaubten sie wohl, auch die Herrschaft über dessen Geist zu besitzen.

Kaum ein populärwissenschaftliches Buch über die Kelten kommt ohne die Abbildung der wie ein Tor gestalteten Steinkonstruktion des Tempels von Roquepertuse aus (15 km westlich von Aix-en-Provence), der dem keltisch-ligurischen Volk der Salluvier zugeschrieben wird, in der die exakt gestalteten Nischen für Schädel auch mit solchen bestückt sind. Der Regisseur Peter Jackson hat diese Konstruktion recht genau in Teil 3 seiner Verfilmung von Der Herr der Ringe als Eingang in den Berg der Toten übernommen. Weitere archäologische Belege sind aber auch aus Entremont (nördlich von Marseille) belegt, der ehemaligen Hauptstadt der Salluvier, wo Skulpturen mit aufgeschichteten Schädeln im Schoß und die Deponierung der Schädeldecken von fünfzehn männlichen Erwachsenen gefunden wurden.

Darüber hinaus gab es bei den Kelten offenbar aber auch eine enge Beziehung zwischen abgetrennten Köpfen und heiligen Gewässern. Gewässerkulte sind natürlich weltweit verbreitet, gerade im keltischen Bereich haben sie allerdings auch die Christianisierung überlebt, da die irischen Bekehrer diese Kulte nicht auszurotten, sondern sie von den heidnischen Gottheiten auf christliche Heilige zu übertragen versuchten.15 Als man 1876 bei einer archäologischen Grabung nahe dem schottischen Carrawburgh – in unmittelbarer Nähe der römischen Festung Procolitia am Hadrianswall – einen Brunnen untersuchte, der einstmals der Göttin Coventina geweiht war, fanden sich darin neben Keramik und anderen Gegenständen auch zahlreiche Kopfdarstellungen aus Bronze sowie ein echter menschlicher Schädel. Das wurde zu diesem Zeitpunkt noch als Kuriosität empfunden, die archäologischen Befunde im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben aber zahlreiche weitere Beispiele von Schädeln in Brunnen erbracht – und das nicht nur aus dem keltischen Britannien. Auch in Trelleborg auf der dänischen Insel Seeland wurden von Archäologen sechs Brunnen aus der Zeit vor 1000 untersucht, in denen sich neben anderen Objekten ebenfalls ein Schädel fand. Die kreisförmigen Umschließungen dort, die genaue Parallelen zu den keltischen Opferbrunnen Britanniens haben, deuten auf eine ebenfalls kultische Verehrung dieser Plätze hin. In dem durch den Fluss Axe gespeisten Höhlensee von Wookey Hole in Somerset wurden zunächst drei, bei einer Nachuntersuchung aber vierzehn weitere Schädel gefunden – abermals in Verbindung mit Keramik, die auf die zwei ersten nachchristlichen Jahrhunderte datierbar war, als der keltische Kopfkult noch in voller Blüte stand. Auch wenn es keine Anzeichen dafür gibt, dass an diesem Ort selbst Menschenopfer durchgeführt wurden, handelt es sich aber doch zweifellos um religiöse Opferniederlegungen.

Diese zahlreichen archäologischen Befunde werden durch literarische Quellen gestützt. In Wales galt ein Schädel oftmals als Wächter und Hüter eines Brunnens oder einer Quelle. Aus zeitgleichen schottischen Überlieferungen wird der Glaube deutlich, dass das Trinken von Frühlingswasser aus dem Schädel eines Vorfahren als wirkungsvolles Heilmittel gegen Epilepsie galt, was noch bis in das 20. Jahrhundert hinein geglaubt wurde. Auch in den irischen Quellen findet sich die feste Verbindung von Brunnen, Heilquellen und abgetrennten Köpfen, was sich durchweg in Erzählungen äußert, in denen der Kopf eines Erschlagenen in einem Brunnen versenkt wurde, der danach dann häufig den Namen des Getöteten trug. Die Brunnen erlangten dadurch oft magische Eigenschaften. So spendete ein irischer Brunnen daraufhin zu einer Jahreszeit salziges, zu einer anderen süßes Wasser, und galt damit als eines der großen Wunder Irlands. In einem anderen Fall deponiert Riach, der einzige Überlebende einer großen Schlacht, die Köpfe der Erschlagenen in einem Brunnen. Da ihm klar ist, dass der Brunnen dadurch große Macht gewinnt, lässt er ein starkes Bauwerk mit einem Tor darin über ihm errichten. Dessen ungeachtet brodelt der erboste Brunnen aber so gewaltig auf, dass sein Wasser tausend Männer ertränkt, unter ihnen auch Riach selbst.

Das Thema hält sich unverändert auch in zahlreichen frühen Heiligenlegenden. Unter den Geschichten über den heiligen Melor – Schutzpatron von Cornwall und der Bretagne – findet sich auch die Erzählung über seine Ermordung. Sein Mörder hatte ihm den Kopf abgeschlagen, um ihn dem niederträchtigen Onkel des Heiligen zu überbringen, der den Mord in Auftrag gegeben hatte. Unterwegs aber überfiel den Mann eine solche Mattigkeit und ein Durst, dass er sein Ende nahe glaubte. In seiner Not begann er um Hilfe zu rufen. Da begann der Kopf, den er trug, plötzlich zu sprechen, und wies ihn an, seinen Stab fest in die Erde zu stoßen. Der schlug sofort Wurzeln, daraus wurde ein wunderschöner Baum mit Früchten, und zwischen seinen Wurzeln begann eine Quelle zu sprudeln, in die der Heilige seinen Kopf zu deponieren befahl. Auch für eine der heiligen Quellen im gallischen Alesia gibt es die Umdeutung auf einen Märtyrer aus dem 3. Jahrhundert, dessen Kopf nach seiner Enthauptung bei Berührung mit dem Boden diese Quelle entstehen ließ.

Aus Wales liegen gleichartige Überlieferungen vor: Als die heilige Lludd enthauptet wurde, rollte ihr Kopf einen Hügel hinab, bis er an einem Felsen liegen blieb, aus dem daraufhin sofort eine heilkräftige Quelle entsprang. Weit weniger segensreich verlief die Enthauptung des heiligen Cynog während seiner Sonntagspredigt in Brecknockshire: Zwar verblüffte der Heilige die Zeitzeugen dadurch, dass er nach seiner Enthauptung selbst seinen Kopf aufhob und ihn noch bis zu einem Brunnen trug, um ihn eigenhändig darin zu versenken. Der Brunnen selbst aber trocknete dadurch auf der Stelle aus.

Diese Belege lassen sich vielfach vermehren, und sie beweisen, dass die heidnische Vorstellung eines Kopfes in einem Brunnen oder einer Quelle eine feste religiöse Größe war, die auch in nachheidnischer Zeit noch ein zähes Weiterleben bewies, wobei aber der Hinweis wichtig ist, dass es sich in fast all diesen keltischen Fällen um Quellen oder Brunnen handelte, deren Wasser Heilkräfte zugeschrieben wurden. In den keltischen Gebieten der Britischen Inseln tragen noch heute zahlreiche Quellen und Brunnen den Namen Well of the Heads. Vor allem im gälischen Schottland finden sich dafür erstaunlich viele Beispiele, wobei die ursprüngliche kultische Bedeutung allerdings durch Sagen und pesudo-historische Erzählungen überlagert wurde, mit deren Hilfe eine Erklärung für die kultische Verehrung geschaffen wurde, als deren Ursprünge auch von den Einheimischen selbst nicht mehr verstanden wurden.

Letzteres ist auch unser Hauptproblem, denn für uns ist genauso wenig mehr nachvollziehbar, welche genauen religiösen oder magischen Vorstellungen mit einem abgeschlagenen menschlichen Kopf in einer Quelle oder einem Brunnen verbunden gewesen sein mögen. Wir können nur feststellen, dass dem in heidnischer Zeit offenbar so war. Die Keltologin Anne Ross kommt angesichts dieser Befunde denn auch bezüglich des Mímir-Mythos zu dem Schluss:

„Die Abtrennung des Kopfes vom Körper, die Haltbarmachung, die Beziehung zu einem Brunnen oder einer Quelle, die einer Gottheit lieb war, und seine prophetischen Gaben, all das sind Merkmale, die sich auf keltische Überlieferung und Glaubensinhalte zurückleiten lassen. All das legt nahe, dass diese Episode in der nordischen Mythologie, wenn auch nicht als eine direkte Übernahme, seine Entstehung aber doch einer genauen Kenntnis keltischer Verhältnisse durch die Dichter verdankt.“16

Angesichts dieser zweifellos erstaunlichen Übereinstimmungen wäre aber auch die Annahme zu prüfen, ob die keltischen und germanischen Überlieferungen nicht vielleicht gleichermaßen Spuren archaischer Praktiken aus einer ehemals gemeinsamen indoeuropäischen Zeit bewahrt haben könnten. Auch Kris Kershaw urteilt:

„Das Motiv muß nicht von den Kelten entlehnt sein: Germanien hatte seine eigenen tȇtes coupées, von denen einige auch sprechen konnten. Köpfe in Brunnen und Quellen treten in europäischen Märchen auf und mögen ein indoeuropäisches Motiv sein, während wahrsagende Köpfe durchaus nicht selten sind.“17

Das allgemeine Motiv, dass einem abgeschlagenen Kopf eine geheimnisvolle Macht innewohnt, findet sich nämlich auch im altnordischen Schrifttum, auch wenn die Anzahl dieser Stellen einem Vergleich mit den keltischen Beispielen nicht standhalten kann. Hier nur ein paar dieser Fälle:

  1. So berichtet Snorri in Skaldskáparmál 15, dass Heimdall „schon einmal getötet worden sei“, und zwar durch einen menschlichen Kopf, und verweist dafür auf die Dichtung Heimdallargaldr. Deshalb könne in der Dichtersprache ein Kopf „Heimdalls Schwert“ und ein Schwert „Heimdalls Kopf“ genannt werden. Da diese Dichtung aber leider nicht auf uns gekommen ist, bleiben uns die genauen Umstände rätselhaft.
  2. In der Eyrbyggja saga (Kap. 43) findet der Knecht Freystein beim Schafehüten auf einem Geirvör genannten Hügel ein „abgeschlagenes Manneshaupt und unbeerdigt“. Das spricht zu ihm: „Rot ist Geirvör vom Blut der Helden, hegt wohl hütend Helden-Schädel“, was gleichermaßen Bezug auf vorangegangene kriegerische Ereignisse wie auch zuverlässige Prophezeihung bervorstehenden weiteren Blutvergießens an diesem Ort ist.
  3. In der Orkneyinga saga (Kap. 5-6) ergeht es Jarl Sigurd insofern übel, als er den abgeschlagenen Kopf seines Feindes Melbricte an den Sattel seines Pferdes gehängt hat, beim Ritt aber durch dessen Schaukeln von einem Zahn am Bein verletzt wird, was zu seinem Tod durch Blutvergiftung führt.
  4. In der prächtigen Lügensaga Þorsteinns þáttr bæjarmagns wächst aus dem Ende eines gewaltigen Trinkhorns plötzlich ein riesenhafter Kopf, der Weissagungen ausspricht und dafür mit Gold belohnt wird.18 Darüber hinaus taucht das verwandte Motiv des Trinkens aus menschlichen Schädeln auch in der Völundarkviða auf.

Und auch im indoeuropäischen Vergleich findet man weitere Parallelen: Nachdem sich Orpheus aus Verbitterung über den zweifachen Verlust seiner geliebten Frau Eurydike von der Liebe zu Frauen losgesagt hat, wird er von den Mänaden zerrissen, wonach sein Kopf in den Fluss Hebrus geworfen wird und stromabwärts ins Meer treibt (dabei weiterhin konstant laut dichtend und singend), bis er schließlich an der Küste von Lesbos angetrieben und dort von den Einwohnern als Orakel in einer Höhle installiert wird.19

Somit sollte man nicht zu vorschnell annehmen, das germanische Motiv könne nur eine Übernahme aus dem Keltischen sein. Von besonderem Interesse ist dabei ein Märchen, das sich in unterschiedlichen Versionen in George Peele’s The Old Wives’ Tale von 1595 wie auch in dem Volksbuch History of the Four Kings of Canterbury, Colchester, Cornwall and Cumberland, their Queens and Daughters20 erhalten hat, in dem ein gutherziges Mädchen (wie üblich mit einer übelwollenden Stiefmutter ind einer boshaften Stiefschwester gestraft) zu einem Brunnen gelangt, aus dem sich drei Köpfe erheben, die darum bitten, gekämmt, gestreichelt und geküsst zu werden. Trotz der Hässlichkeit der Köpfe erfüllt das Mädchen die Bitten und wird dafür reich belohnt: mit Schönheit, Wohlgeruch, Gold und der sich erfüllenden Prophezeihung, dass sie einen Prinzen heiraten werde. Als die boshafte Stiefschwester des Mädchens ebenfalls an den Brunnen gerät, verweigert sie die Erfüllung der Bitten und verhöhnt und verspottet die Köpfe, was natürlich dazu führt, dass sie danach Lepra, üblen Körpergeruch, Armut und einen mittellosen Taugenichts als Ehemann verpasst bekommt. Noch interessanter ist, dass es dazu eine sehr genaue Parallele aus Norwegen in Form eines Märchens gibt,21 das sich lediglich dadurch unterscheidet, dass die drei Köpfe sich hier nicht aus einem Brunnen sondern aus einem Fluss erheben.

Jacqueline Simpson, die auf dieses Material aufmerksam gemacht hat,22 weist denn auch nachdrücklich auf die Wichtigkeit dieser englischen (also germanischen) Volkserzählungen und ihrer eigenständig wirkenden norwegischen Parallele hin, da sie inhaltlich keinerlei Verbindung zu den keltischen Varianten Britanniens aufweisen. Ganz anders als in den keltischen Beispielen sind die Köpfe hier nämlich Schenker von Gaben (wie auch Mímir), nicht aber die Wächter von Heilquellen. Hier – und zwar ausschließlich hier (nicht aber in den keltischen Quellen!) – finden wir auch das Detail, dass die Köpfe sich tatsächlich aus der Quelle, dem Brunnen oder dem Fluss erheben, sowie auch ihre Forderung, gekämmt, gebürstet, gewaschen, gestreichelt oder geküsst zu werden, was auf rituelle bzw. kultische Ursprünge hinweist. Wohlgemerkt, es handelt sich hier um Köpfe ohne Körper, nicht aber um Wesen, die lediglich ihren Kopf aus dem Wasser erheben. Auch werden diese Geschichten nicht mit dubiosen Erklärungen bezüglich bestimmter Ortsnamen oder der Verehrung örtlicher Heiliger verbunden. Deshalb muss es als unwahrscheinlich betrachtet werden, dass es sich im Fall vom Mímir um das einzige nicht-keltische Beispiel für einen mit dem Wasser verbundenen und sprechenden Kopf handelte. Auch wenn man Wandermotive dabei nicht völlig ausschließen kann, stützen diese Beispiele aber die Vermutung, dass die Verbindung eines Brunnens mit einem Kopf einstmals weit verbreitet war, auch wenn heute deren Spuren im keltischen Bereich weit besser nachweisbar sind als anderswo. Mit diesen neuen Erkenntnissen versehen empfiehlt es sich also, auch die Quellen über Mímir in neuem Licht zu betrachten und daraufhin zu prüfen, wie weit sie zur Klärung der Probleme in der älteren Forschung beitragen könnten.

Klar wird dadurch aber auch, dass es eben nicht zwei verschiedene Mímirs gab, sondern nur einen. Der abgeschlagene Kopf, der durch magische Kunst weiterlebt und dadurch selbst magische Fähigkeiten erlangt hat, befindet sich innerhalb der heiligen Quelle bzw. des Brunnens an der Wurzel von Yggdrasill. Snorris Änderung von „Odin murmelt mit Mímirs Haupt“ zu „dann reitet Odin zum Mímir-Brunnen und holt Rat bei Mímir“ muss damit auch nicht mehr als willkürliche und eigenmächtige Erklärung im Dienst der Vernunft betrachtet werden. Das Problem, ob Mímir nun Riese oder Ase ist, verliert somit ebenfalls an Bedeutung. Wahrscheinlich war er weder das eine noch das andere, sondern vor allem immer nur „der Kopf“, eine Gottheit der Anderswelt, deren angemessene Bezeichnung Sökkmímir (Mímir der Tiefen) war. Als solcher gehört er weder ganz der Welt der Lebenden noch der der Toten an. Somit gibt es auch keinen wirklichen Widerspruch zwischen den Textquellen, in denen er aktiv und lebendig erscheint und die Wasser seiner eigenen Quelle trinkt, und denen, in denen er lediglich Objekt von Odins nekromantischen Künsten ist. Genauso wenig ist seine Verbindung mit dem Weltenbaum ein widersprüchliches Element, da die Verbindung heiliger Quellen mit heiligen Bäumen in der indoeuropäischen Überlieferung allgegenwärtig ist. Zwar wird im Fall der Nennung von Mímameiðr in Fjölsvinnsmál 19-23 das Wesen des Baumes nicht als kosmische Säule verstanden, sondern als Baum der Heilung mit besonderer Beziehung zu den weiblichen Problemen bei der Kindsgeburt. Bei der Nennung von Hiddmímis holt in Vafþrúðnismál 45 wird aber allgemein angenommen (obwohl das keineswegs sicher ist), dass damit Yggdrasill gemeint ist, da es hier darum geht, dass sich die zwei einzigen menschlichen Überlebenden von Ragnarök in einem „Holz“ (d.h. Baum) verbergen. Egal ob Mímirs Verbindung mit dem Weltenbaum ursprünglicher Teil seines Mythos war oder nicht, würde das aber in keinem Fall seiner Hauptfunktion widersprechen. Und diese Hauptfunktion Mímirs besteht in seiner Rolle als Spender und Hüter von Weisheit, vor allem magischer, chtonischer und prophetischer Weisheit. Sein Name ist schließlich ursprungsverwandt mit memor (Gedächtnis, Erinnerung), und die Wasser (bzw. der Met) seiner Quelle schenken Wissen, nicht Heilung.

Ein letzter Widerspruch ist nicht wirklich aufzulösen, den auch Kris Kershaw anmahnt: „Und dann gibt es da noch das Problem des mumifizierten Kopfes, den Odin in der Ynglinga saga mit sich herumträgt und zu Rate zieht.“23 Solche vermeintlichen Widersprüche werden aber nur dann zum Problem, wenn man nach dem Modell „heiliger Schriften“ auch in Mythen ein in sich logisches und widerspruchsfreies Konstrukt einziger und letzter Wahrheit finden will, wozu auf Grund ihrer christlichen Sozialisation auch viele heutige Heiden neigen. Das aber waren sie nie. Gerade die literarisch gut überlieferten Mythen der klassischen Antike strotzen von Unterschieden und Widersprüchlichkeiten. Sie wurden – wie auch Märchen und Sagen – immer wieder verändert und ganz anders erzählt, wobei sie neuen sozialen, religiösen und politischen Gegebenheiten neu angepasst wurden, ohne dass dabei jemand an einer „Verfälschung“ Anstoß genommen hätte. Im Fall der Ynglinga saga muss auch bedacht werden, dass hier vermutlich alte schwedische Traditionen vorliegen, die sich im Einzelfall deutlich von norwegischen oder isländischen Überlieferungen unterschieden haben mögen. Alles andere wäre sogar sehr erklärungsbedürftig.

Es ist klar, dass die letzten Fragen bezüglich Mímirs nie endgültig gelöst werden können, aber die hier aufgezeigten Gemeinsamkeiten lassen es zumindest überzeugend erscheinen, dass die unterschiedlichen Aussagen über ihn lediglich verschiedene Facetten einer einzigen – wenn auch vielschichtigen – Figur sind und dass dem Versuch, seine Bedeutung zu verstehen, keine unauflösbaren Widersprüche entgegen stehen.

4. Das Auge in der Quelle

Was nun das Motiv des Auges in der Quelle betrifft, ist die Indizienlage noch dünner. Im 19. Jahrhundert wurde diese Geschichte – wie praktisch jeder Mythos – rein naturmythologisch gedeutet, in diesem Fall so, dass er das Eintauchen der Sonne in das Meer darstelle. Aber bereits Golther konnte sich mit dieser naiven Deutung nicht mehr so recht anfreunden. Aus seiner Formulierung klingt deutlich heraus, wie widerwillig und eher gezwungenermaßen er auf diese Deutung seiner Vorgänger eingeht:

„Ob man Odins Einäugigkeit auf die Sonne deuten darf, scheint zweifelhaft. Aber vorerst ist keine bessere Deutung gefunden. Dichterische Bildsprache mag die Sonne als das Auge des Himmelsgottes bezeichnen, wie die Sonne das Auge des Zeus ist. Ihr Spiegelbild im Gewässer ist das andere Auge, das der Gott, um Weisheit zu erholen, in den tiefen Quellengrund hinabsenkte. In ständigem Verkehr stehen Sonne und Wasser, die Sonne zieht Wasser, das Wasser nimmt ihr Bild zum Pfand. So mag zur Not das Verhältnis zwischen Odin und Mimir gedeutet werden. Auch das Versinken der Sonne im Meer könnte den Mythos veranlasst haben. Liegt die Sonne im Quellengrunde, in Mimirs tiefem Brunnen, aus dem alle Gewässer ihren Ursprung haben, dann mag auch dadurch die Vorstellung, dass ein Strom aus Odins Pfande fließt, erklärt werden.“24

Und bereits Golther erkennt:

„Die Sage von Odin und Mimir ist schwerlich sehr alt, sie ist allzu geistig und weist auf bewusst schaffende, kunstreiche dichterische Erfindung.“25

Auch Elard H. Meyer betont:

„Nicht die Verpfändung des Gottesauges, noch weniger die Enthauptung Mimirs und vor allem die Einbalsamierung seines Kopfes sind echte Volksmythen.“26

Das sieht man auch in der neueren Forschung so. Dazu Kris Kershaw:

„Die Geschichte von Odins Opfer seines Auges im Tausch für einen Trunk Weisheit erscheint mir […] als zu künstlich, um wirklich alt zu sein; jedoch kann weder der Verlust des Auges noch das Auge im Brunnen sehr jung sein, da beide tief in der Dichtung verwurzelt sind. Andererseits ist der überlieferte Zustand des Mythos problematisch. Snorris Erzählung verweist auf Vsp. 28, 7-10, nach der Odins Auge sich in Mimirs Brunnen befindet; er berichtet uns, daß ‚Odin sein Auge als Pfand hinterließ‘. Aber laut Vsp. 28, 12-13 ‚trinkt Mimir jeden Morgen Met aus Odins Pfand‘. Wenn das Auge das Pfand ist, dann mutet das ziemlich seltsam an. Snorri sagt, Mimir ‚ist voller Weisheit, da er mit dem Horn Giallarhorn aus dem Brunnen trinkt‘, aber Vsp. 46 identifiziert Giallarhorn, wie Snorri selbst zuvor, mit dem Horn, auf dem Heimdall blasen wird, um die Götter zur Schlacht zu rufen. […] Snorri macht wie immer das Beste aus dem Mythos einer Religion, an die er nicht glaubte. Ich denke, wir können das Zeugnis der Völuspa akzeptieren, daß Mimir der Eigentümer der Quelle war und daß Odins Auge und das Giallarhorn sich darin befanden. Doch zu jener Zeit hatte die Geschichte bereits eine Entwicklung durch viele Stufen hinter sich. Ich bin nicht so kühn, diese verschiedenen Stadien rekonstruieren zu wollen, aber ein paar Andeutungen möchte ich mir erlauben. Das Bild […] legt meines Erachtens die Vermutung nahe, daß in einer sehr alten Geschichte das Auge selbst die Quelle gewesen ist.“27

Kris Kershaw gründet ihre Ansicht und nachfolgenden Ausführungen darauf, dass im indoeuropäischen Vergleichsmaterial tatsächlich Quellen und Brunnen häufig als „Augen“ bezeichnet werden. Im Altnordischen ist eine mit Wasser gefüllte Mulde ein auga. Der niederländische Keltologe Anton Gerard van Hamel belegt Morska oka (See-Augen) als Namen von Seen im Tatra-Gebirge, gibt zahlreiche walisische Beispiele von „Auge“ (ilygad) in den Namen von Flussquellen an und verweist auf den besonders auffallenden Gebrauch von ilygad im Walisischen als verbreiteten Begriff für die Stelle, wo das Wasser aus der Erde sprudelt, z.B. ilygad y ffynnawn (Auge des Brunnens), und auch das litauische aka (Brunnen) entspricht dem russischen oko (Auge).28 Angesichts dessen klingt Kershaws Vermutung durchaus plausibel, und erst später mag sich das Verständnis von der Quelle als „Auge“ mit der Vorstellung von Odins Auge in der Quelle verbunden haben. Das könnte auch die auf den ersten Blick unsinnig erscheinende Behauptung erklären, Mímir trinke aus Odins Pfand. Wäre dieser Begriff – Odins Auge – ursprünglich als die Quelle selbst verstanden worden, würde sich dieser Widerspruch nämlich problemlos auflösen.

Aber möglicherweise ist alles auch viel einfacher und muss nicht mit gelehrten Wortableitungen erklärt werden. Denn was spricht dagegen, dass der Mythos einfach vor dem Hintergrund althergebrachter Opferpraxis verstanden wurde, wobei man etwas von großem Wert opfert, um dafür etwas ebenso Großes zu erlangen? Zu dem Schluss kommt auch Richard M. Meyer:

„Ein nordischer Mythos erzählt uns auch, wie Odin sich Mimirs Weisheit gesichert habe: indem er sein eigenes Auge hergab. Aber ursprünglich hat er Mimirs Haupt ganz anders zum Sprechen gebracht: durch Bedrohung mit Helm und Schwert [Sigrdrífumál 14]. Man wird deshalb wohl die naturmythische Deutung auf die versinkende Sonne (z.B. bei Mogk) ebenso entschieden abweisen müssen wie die euhemeristische Erzählung der Heimskringla, die den fetischistischen Charakter des Hauptes ausarbeitet. […] Vielmehr wird in jener ‚Pfandsetzung‘ des Auges lediglich ein mythologisch-symbolischer Ausdruck für Odins Selbstaufopferung um der Runenfindung willen zu sehen sein.“29

Natürlich kann der Mythos nicht von der über lange Jahrhunderte in weiten Teilen Europas dokumentierten Praxis losgelöst betrachtet werden, an heiligen Quellen und Brunnen zu opfern, indem man die Opfergaben (oder menschlichen Opfer) den Wassern übergab. So berichtet Adam von Bremen über die Opferfeiern zu Uppsala, dass ein lebender Mensch in den Brunnen zu Füßen des heiligen Baumes gestoßen wurde.30 Eine solche Opferpraxis lässt sich gut mit dem Glauben an eine andersweltliche Gottheit vereinen, die ihren Aufenthaltsort in den Tiefen von Brunnen und Quellen hat.

In Litauen gibt es den Begriff Vélnio okis (Vélnias Auge), mit dem ein Teich in einem Wald bezeichnet wird. Dieser Vélnias (oder auch Velinas) ist eine Gottheit mit großen Ähnlichkeiten zu Odin. Marija Gimbutas berichtet:

„Er ist der Gott der Toten und führt die Schar der veles an, von Geistern und Heroen, ähnlich dem Wilden Heer oder der Wilden Jagd. Sein Name war tabu und durfte nicht ausgesprochen werden, weshalb viele andere Namen in Gebrauch waren, darunter waren die bekanntesten Pikulas, Pikis oder Piktis (Gott der Wut). Ein anderer ist Ragius (der Seher). Velinas ist einäugig, sein eines Auge hat magische Bedeutung, ähnlich dem des germanischen Odin.“31

Und dann folgt eine ganz erstaunliche Passage:

„Aus einer Darstellung des litauischen Heidentums von Henneberger aus dem Jahr 1696 erfahren wir, dass es bei Isrutis eine heilige Quelle namens Golbe gab, zu der die Männer kamen, um ‚einäugig‘ zu werden, d.h. um ein Auge zu opfern. Einäugig zu sein war eine große Ehre, und einige einäugige Männer lebten noch zu Hennebergers Zeiten.“32

Diese Information ist äußerst schwierig einzuschätzen, aber es dürfte wenig wahrscheinlich sein, dass sie wortwörtlich zu verstehen ist, denn kein geistig gesunder Mensch würde sich selbst ein Auge herausschneiden oder -reißen. Zwar ist die Selbstkastration der orientalischen Attis- und Kybele-Priester genauso schwer nachvollziehbar, sie erfolgte aber in einem kulturellen Umfeld, in dem Eunuchen zum Alltag gehörten. Diese angebliche Praxis der Litauer wäre in indoeuropäischem Zusammenhang jedoch ein solch herausragender ritueller Einzelfall, dass sie schon deshalb wenig glaubhaft wirkt.

Zunächst einmal kann man dabei nicht kategorisch auschließen, dass dem Chronisten hier von seinem Informanten eine phantastische Lügengeschichte erzählt worden ist, die er willig geglaubt hat. Oder aber er hat diese Geschichte frei erfunden, da bei der Beschreibung fremder Völkerschaften seit der Antike vor allem Bizarres und Seltsames (heute würden wir sagen: Sensationelles) gefragt war. Für beides gibt es genug zeitgenössische Beispiele. Am Wahrscheinlichsten aber scheint mir, dass der Verfasser hier gutgläubig irgend einem kulturellen oder sprachlichen Missverständnis aufgesessen ist, wovon es in der Geschichte der Völkerkunde ebenfalls nur so wimmelt. Demnach könnte es einen möglichen Initiationsritus gegeben haben, deren Angehörige danach als „Einäugige“ galten, ohne dass sie dabei aber tatsächlich ein Auge verloren. Bei aller gebotenen Skepsis ist dieser Hinweis in unserem Zusammenhang aber hoch interessant.

Ein weiteres ungelöstes Problem – oben von Kershaw schon angedeutet – betrifft die Verbindung Mímirs mit dem Gjallarhorn, aus dem er laut Snorri das Wasser seines Brunnens trinkt. Das Gjallarhorn ist uns aus anderen Informationen aber nicht als Trinkhorn, sondern als Rufhorn bekannt, mit dem Heimdall bei Ragnarök zum Kampf bläst. Einige Gelehrte haben hier ein Missverständnis vermutet, das aus Völuspá 27 entstanden ist, wo gesagt wird, dass Heimdalls hlóð unter Yggdrasill verborgen sei und von Wassern überströmt werde, die sich aus Walvaters Pfand ergießen. Die Bedeutung von hlóð an dieser Stelle ist unklar. Viele Übersetzer haben den Begriff hier als „Stimme“ verstanden und somit als Horn. Sigurður Nordal aber vermutet darin Heimdalls Ohr, denn tatsächlich bedeutet der altnordische Begriff eigentlich „Gehör“ (Snorri sagt, Heimdall könne das Gras und das Fell auf dem Rücken der Schafe wachsen hören), das er ebenso als Pfand in den Brunnen gegeben haben könnte, wie Odin sein Auge.33 Snorris Interpretation (s.o.) könnte allenfalls durch die Erwähnung eines Hornes in Sigrdrífumál 12 gestützt werden, und vielleicht auch durch Völuspá 46, wo das Gjallarhorn unmittelbar vor der Erwähnung von „Mimirs Kopf“ genannt wird, und wo die Aussage horn er á lopti (das Horn ragt in die Luft) nicht lediglich das Blasen des Horns meinen könnte, sondern auch, dass es aus seinem tief verborgenen Versteck erhoben wurde. Dass eine Gottheit der Anderswelt ein bemerkenswertes Trinkgefäß – Horn, Kessel oder Kelch – hütet, ist ein häufiges Motiv in Märchen und Sagen.

5. Fazit

Wenn wir unsere Betrachtungen hiermit also wieder auf die Ausgangsfrage zurück lenken (von der wir uns zwischenzeitlich erheblich entfernt haben), was nämlich Odins Auge in Mímirs Brunnen zu suchen hat, fällt die Antwort nun eindeutig leichter. Nach all den hier vorgetragenen Befunden möchte ich deshalb zu einer Erklärung kommen, die mir auch mythisch immanent als am folgerichtigsten erscheint und die ich mit einem weiteren Zitat von Kris Kershaw einleiten möchte:

„Eine lebendige Religion arbeitet kontinuierlich an ihrer Selbsterklärung, und das germanische Heidentum war in Skandinavien mehrere Jahrhunderte länger gelebte Religion als woanders. In derselben Zeit entwickelte sich eine anspruchsvolle Dichtkunst. Dies könnte, wie ich meine, ein geeigneter Augenblick sein, in dem der neue Gedanke von einem Gott aufkommt, der etwas außerordentlich Wertvolles opfert, um eine größere Macht oder ein höheres Gut zu erlangen; in diesem Sinne opfert Týr, der Schwert- (und Eid-)gott seine Hand, um den Wolf zu bändigen und dadurch etwas Zeit für Götter und Menschen zu gewinnen, bevor das Chaos entfesselt wird. Odins Opfer paßt zu seiner Rolle als Gott des Wod, der zum Hochgott aufgestiegen ist; er schenkt dichterische Inspiration und läßt das feindliche Heer erstarren, aber er überschaut auch alle Welten von seinem Hochsitz aus. Dies fügt sich leicht in das Charakterbild eines Gottes ein, der sich einer Selbstfolter unterzog, um die Runen unter seine Botmäßigkeit zu zwingen: Er wächst als ein Gott, der davon besessen ist, die Macht des Wissens zu erwerben.“34

In Asgard gibt es bekanntlich einen Hliðskjálf genannten Sitz, von dem man aus das Geschehen in allen neun Welten überblicken kann. Er wird teilweise als Thron Odins verstanden, aber aus Skírnismál scheint deutlich zu werden, dass auch andere Götter diese „Aussichtsplattform“ nutzen können, da Freyr sich dort eigener Ausblicke wegen niederlässt und so die schöne Gerdr erblickt. Die entsprechenden Parallelen zu dem als seiðhjallr bezeichneten Gerüst der Völven sind von Vilhelm Kiil deutlich gemacht worden.35 Wäre angesichts all dessen also nicht vielleicht die Annahme folgerichtig, dass es gerade Odin mit dem Überblick über die neun Welten nicht genug ist, sondern er auch die in dem Brunnen Mímirs verborgenen Geheimnisse von Wyrd, Örlog und nornischen Angelegenheiten ergründen will?

Die keltischen Parallelen belegen zweifelsfrei den Glauben daran, dass einem abgeschlagenen Haupt durch Deponierung in solch einer geweihten Quelle oder einem Brunnen Weisheit und verborgenes Wissen zukam – und wechselseitig dadurch auch die Wasser selbst wundersame Kräfte erlangten. Dass dieses Muster später auch auf enthauptete christliche Heilige übertragen wurde, sollte dabei weder überraschen noch verwirren, sondern ist gerade ein Beweis und eine Bestätigung für diesen vorchristlichen Glauben. Durch diesen Glauben ist es möglicherweise überhaupt erst zu der Verbindung zwischen Mímir und Odin gekommen.

Angesichts dieser Voraussetzung muss das dann aber genauso auch für ein Auge gegolten haben, das in solch heiligem Wasser versenkt wurde. Auch ein solch „abgetrenntes“ Auge muss danach also als „allsehend“ oder zumindest als von großer Seherkraft erfüllt gedacht worden sein (und Heimdalls wahrscheinlich dort deponiertes Ohr bzw. Gehör ebenfalls als „allhörend“). Odins Auge im Brunnen – nach wie vor natürlich auf göttlich-magische Weise mit ihm verbunden – hätte er dann deshalb in Mímirs Brunnen versenkt, um über seine Blickmöglichkeiten von Hliðskjalf hinaus nun auch noch all die dort in den Wassern verborgenen weiteren Geheimnisse erspähen und ergründen zu können. Somit war die Deponierung des Auges in der Quelle möglicherweise also gar kein „Opfer“ oder der „Preis“ für einen Trunk aus dem Brunnen, sondern der entscheidende Akt der Weisheitsfindung selbst.

Daraus wird ersichtlich, dass die Deponierung des eigenen Auges als Pfand oder Bezahlung für einen Trunk aus dem Brunnen der Weisheit tatsächlich eine spätheidnische Erklärung sein muss, als sich die ursprünglichen Zusammenhänge bereits zu verwischen begannen und wohl schon in der Wikingerzeit nicht mehr richtig verstanden wurden, weshalb sie auf das Verständnis kultischer Opferpraxis reduziert wurde, durch eine wertvolle Gabe vergleichbar Wertvolles erlangen zu können. Sie wird damit zu einem eher unwesentlichen Element, das für den ursprünglichen Mythos keine Bedeutung mehr hat. Die Aussage, dass Mìmir aus „Odins Pfand“ (also seinem Auge) trinkt, lässt sich wiederum problemlos aus der Tatsache ableiten, dass „Auge“ auch ein alter und vielfach belegter Begriff für Quellen und Brunnen als solche ist.

Natürlich sind damit nicht alle Fragen dieses rätselhaften Mythos geklärt. Wir haben uns hier aber zumindest der Figur Mìmirs und seines Kopfes im Brunnen so weit angenähert, wie es angesichts des überlieferten Materials nur möglich scheint. Darüber hinaus glaube ich, die Fragen bezüglich „Odins Auge im Brunnen“ hier ebenfalls auf einen Punkt gebracht zu haben, über den hinaus man schwerlich gelangen kann, wenn man die spärlichen Quellen im Auge behält. Denn nur so lassen sich die unterschiedlichen Motive des Kopfes und des Auges in der Quelle – sowie die Verbindung Mímirs mit Odin in diesem Zusammenhang – in Beziehung setzen. Alles, was darüber hinaus bezüglich dieses Motivkomplexes offen oder widersprüchlich bleibt (und das ist eine ganze Menge), kann man nur als so gegeben hinnehmen. Für heutige Heiden sollte daraus kein Problem erwachsen – schon gar nicht in Verbindung mit Odin. Denn ist nicht gerade diese unerklärliche Widersprüchlichkeit eine der typischen Eigenschaften dieses Gottes?

Endnoten

1 So z.B. Johan Palmér: Sigrdrífumál 13, in: Festskrift til Finnur Jónsson, 29. maj 1928. København 1928, S. 244-251.

2 Klaus von See [u.a.]: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 5. Heidelberg 2006, S. 575 f.

3 R. Höckert: Völuspá och Vanakulten. Uppsala 1926-30, I, S. 528.

4 Kris Kershaw: Odin. Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde. Ulstädt-Krchhasel 2003. S. 275.

5 Klaus von See, a.a.O., S. 577 f.

6 Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie [1895]. Essen [Repr.] o.J., S. 180.

7 So z.B. F. von der Leyen: Die Götter und Göttersagen der Germanen. München 1909. S. 150.

8 Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte. Bd. I. Berlin 1956, S. 247.

9 So z.B. Axel Olrik: Nogle grundsætninger for sagneforskning. København 1921, S. 91.

10 Golther, a.a.O., S. 180.

11 Richard M. Meyer: Altgermanische Religionsgeschichte [1909]. Essen [Repr., o.J.], S. 167.

12 Wilhelm Grönbech: Kultur und Religion der Germanen. Hamburg 1937-39, Bd. 2, S. 241.

13 Diodorus Siculus V, 29.

14 Vgl. Strabon: Geographica IV, 4 f.

15 Für Detalis und Belege zu den folgenden Ausführungen über die archäologischen Befunde und literarischen Quellen vgl. ausführlich Anne Ross: Pagan Celtic Britain. London 1967, S. 104-113.

16 Ebenda, S. 110.

17 Kershaw, a.a.O., S. 275.

18 Guðni Jónsson u. Bjarni Vilhjálmsson (Hg.): Fornaldarsögur Norðurlandar. Reykjavík 1944. Bd. 3, S. 397-417

19 Ovid: Metamorphosen XI, sowie bei Philostratus: Heroica V, 704.

20 Abgedruckt in R.H. Cunningham: Amusing Prose Chapbooks, London 1889, sowie in E.S. Hartland: English Fairy and other Folk Tales, London 1890.

21 Abgedruckt in P. Chr. Asbjørnsen u. Jørgen Moe: Samlede eventyr, Bd. 2. Oslo 1936, S. 52-54

22 Jacqueline Simpson: Mímir – Two Myths or One? In: Saga Book of the Viking Society, 16.1962, S. 41-53.

23 Kershaw, a.a.O., S. 274.

24 Golther, a.a.O., S. 347 f.

25 Ebenda, S. 348

26 Elard Hugo Meyer: Mythologie der Germanen. Straßburg 1903, S. 281.

27 Kershaw, a.a.O., S. 274 ff.

28 A.G. van Hamel: Völuspá 27-29, in: Arkif för nordisk filologi 41 (NF 37).1925, S. 293-305.

29 Richard M. Meyer, a.a.O., S. 167.

30 Gesta IV, 26, schol. 134.

31 Marija Gimbutas: The Lithuanian God Velnias, in: Myth in Indo-European Antiquity, ed. by Gerald j. Larsen. Berkeley 1974. S. 87-92

32 Ebenda.

33 Sigurdur Nordal: Völuspá. Darmstadt 1980.

34 Kershaw, a.a.O., S. 276.

35 V. Kiil: Hliðskjálf og seiðhjallr, in: Arkif för nordisk filologi, 75.1960, S. 84-112

Erschienen 2009 in Herdfeuer 23

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