Arbogast – eine vergessene Heldengeschichte

von Kurt Oertel

Die Völkerwanderungszeit war ein Zeitalter, in dem herausragende und entschlossene Persönlichkeiten zu Legenden werden konnten. Praktisch alle großen Figuren der südgermanischen Heldensage haben ihren Ursprung in dieser unruhigen Zeit, aus der letztlich ein neues und völlig verändertes Europa hervorging. Wenn im heutigen Heidentum Namen der großen Volkskönige wie Theoderich der Große, Alarich, Geiserich usw. bewundernd genannt werden, scheint dabei jedoch gerne übersehen zu werden, dass all diese Herrscher und ihre Völker bereits Christen waren. Mit dem Namen Arbogast aber scheinen nur spezialisierte Historiker vertraut zu sein. Und doch ist gerade seine Geschichte des Erzählens wert, nicht nur, weil er Zeit seines Lebens den Göttern seiner Ahnen treu blieb, sondern mehr noch, weil er in Ereignisse verwickelt wurde, deren Kenntnis jedem heutigen Heiden gut anstehen würde und die in zusammenhängender und gemeinverständlicher Form so noch nie erzählt worden sind, sondern in fachwissenschaftlichen Gesamtdarstellungen bestenfalls nur in wenigen Sätzen abgehandelt werden. Dies also ist sie, die seltsame, großartige und (wie jede gute germanische Heldensage) tragische Geschichte Arbogasts.

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Von den Beschwernissen der letzten Reise – Jenseitsvorstellungen und Seelenglaube

von Kurt Oertel

In einer Veröffentlichung über Moorfunde in Schleswig-Holstein schreibt der Archäologe Herbert Jankuhn:

„Bei Lottorf im Kreise Schleswig gibt es ein kleines Moor, in dem über zehn Lederschuhe, z.T. abgetragene Stücke, gefunden wurden, und da einzelne Schuhe auch in anderen Mooren auftreten, muß hier ein fest umrissener Brauch vorliegen, der es erforderte, daß aus bestimmten Anlässen oder zu ganz bestimmten Zwecken Schuhe auf Mooren niedergelegt wurden. Welche Gedanken die Menschen der alten Zeit damit verbanden, wissen wir nicht.“ 1

Das wissen wir in der Tat nicht. Eine Betrachtung anderer Quellen aber könnte den Blick immerhin in eine bestimmte Richtung lenken. Schuhe waren nämlich auch ein wichtiger Bestandteil des Totenbrauchtums, und die damit verbundenen Vorstellungen, die auf heidnische Denkmuster zurückgreifen dürften, sind dabei noch deutlich erkennbar. Die sogenannten Totenschuhe, auch Hel-Schuhe genannt (altnordisch: helskór) gehörten zu den wichtigsten Dingen, mit denen man Verstorbene auszustatten hatte. Natürlich steht dahinter zunächst einmal die sehr real gedachte Reise in die Jenseitswelt, die der Verstorbene anzutreten hatte, und für die gutes Schuhwerk als genauso unerläßlich galt wie weitere Grabbeigaben auch. Nun gibt es aber eine wenig beachtete Quelle, die heutigen Heiden allein schon deshalb unbekannt ist, weil sie erstmals 1979 vollständig und mit einer deutschen Übersetzung versehen veröffentlicht wurde,2 und die uns möglicherweise interessante Detaileinblicke eröffnet.

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Wie man sich vor Trollen schützt

von Eran
Übersetzung aus dem Englischen von Kurt Oertel

Teil 1: Das Grundproblem

Wir alle haben verschiedentlich mit ansehen müssen, wie heidnische Gruppen oder auch größere Vereine und Dachverbände durch innere Streitigkeiten zerstört wurden und zerfielen. In manchen Fällen ist das einfach nur Teil des natürlichen Kreislaufs von Entstehung und Zerfall, wobei sich etwas Überaltertes auflöst, um Platz für neues Wachstum zu ermöglichen. In anderen Fällen jedoch traf dieser Zerfall auch hoffnungsvolle heidnische Gruppierungen, die noch jung und unverbraucht wirkten. Dabei kam es nicht nur zu einer Zerstörung dieser Gruppen von innen heraus, sondern auch erfahrene Veteranen und hoch geachtete Personen, die das Heidentum lange Zeit hingebungsvoll mit aufgebaut hatten, fanden sich danach oft in einem Zustand völliger Desillusionierung wieder, weil sie dabei solche Verletzungen und Anfeindungen erlebt hatten, dass sie daran innerlich zerbrachen.

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Gab es einen altnordischen Glauben an Wiedergeburt?

Zu den historischen Hintergründen der angeblichen Quellen

von Bil Linzie
Übersetzung aus dem Englischen von Kurt Oertel

1. Einführung

Germanisches Heidentum zählt heute wieder zu den „alternativen Religionen“, und es ist zumindest unter dem Aspekt einzigartig, dass man dort unter einer Vielzahl nachtodlicher Vorstellungen wählen kann. Spätestens gegen Ende der Wikingerzeit gab es mindestens vier solcher Varianten, die in den schriftlichen Quellen dingfest gemacht werden können. Es gibt noch weitere, die sich möglicherweise aber erst nach der Bekehrung entwickelten. Dieser Artikel aber beschäftigt sich ausschließlich mit einer dieser Vorstellungen – dem immer hauptsächlich von armanisch beeinflussten Heiden postulierten Glauben an Reinkarnation bzw. Wiedergeburt bei den Germanen.

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Wo Odin sich Rat holt – Eine Annäherung an Mímir und Odins Auge im Brunnen

von Kurt Oertel

1. Die Quellen

Bekanntlich hat Odin eines seiner Augen als „Pfand“ in Mímirs Brunnen hinterlegt. Wofür genau dies als Pfand dienen soll, wird nirgendwo deutlich, es scheint viel mehr eher als Preis dafür verstanden zu werden, dass Odin einen Schluck aus diesem Brunnen nehmen durfte, wodurch ihm Weisheit und Wissen zuteil wurde. Nüchtern betrachtet ist das ein recht seltsamer Handel, denn welchen Gewinn oder Nutzen soll Mímir davon haben, dass Odins Auge nun in dem Brunnen ruht? Gänzlich unverständlich wird die Sache aber, wenn man dann noch erfahren muss, dass Mímir ausgerechnet „Odins Pfand“ – also sein Auge – als Trinkgefäß benutzt, Was soll das nun wieder bedeuten?

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Wie schreibt man eigentlich in Runen?

von Kurt Oertel

Der als Frage formulierte Titel dieses Beitrages mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, da Runenkenntnis vielen Ásatrú-Anhängern als grundsätzliches Glaubensgut ihrer Religion gilt. Das beschränkt sich bei den meisten allerdings auf Beschäftigung mit den magisch-esoterischen Bedeutungen der Einzelrunen des älteren Futhark, erstreckt sich aber selten auf die „wirklichen“ Runen, also tatsächliche Inschriften. Das soll keinesfalls abfällig gemeint sein, denn diese Inschriften sind in Sprachen verfasst, für deren Verständnis man sie studiert haben muss und die zudem in ihrer überwältigenden Mehrzahl in unterschiedlichen Formen des jüngeren Futhark (korrekter: Futhork) ausgeführt sind.

Aber um diesen Aspekt soll es hier und jetzt gar nicht gehen, sondern vielmehr darum, wie man heutiges Deutsch möglichst authentisch in runische Schreibweise umsetzen kann, wenn einem – aus welchen Gründen auch immer – daran gelegen ist. Angesichts der oft peinlichen Unbeholfenheit, die einem vor allem im Internet dabei immer wieder begegnet, möchte ich hier einfach ein paar sinnvolle Vorschläge aus fachwissenschaftlicher Sicht zu den Problemen und ihrer möglichen Lösung äußern.

Zunächst einmal die Frage: Warum sollte man heutiges Deutsch überhaupt runisch schreiben? Die möglichen Gründe dafür sind vielfältig und durchweg legitim:

1. Ganz allgemein macht nichts mehr und schneller mit den Lautwerten und Formen der Runen vertraut, als Schreibübungen in heutiger Sprache, woran manche ja auch einfach nur große Freude haben. Und es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Menschen über eine eher zufällige Begegnung mit den Runen zu Ásatrú finden.

2. Heidnische Künstler und Handwerker nutzen oft Runen, um ihre Werke ästhetisch zu bereichern. Besonders hier ergibt sich die Notwendigkeit, überzeugende Lösungen für Inschriften in heutigem Deutsch zu finden, damit die Wirkung einer oft handwerklich-künstlerisch gelungenen Arbeit nicht durch eine eher unglückliche Verwendung von Runen geschmälert wird.

3. Kinder in einem bestimmten Alter sind von Geheimschriften fasziniert, die ihre Altersgenossen nicht lesen können, durch die sie aber mit Gleichgesinnten kommunizieren können. Hier bietet sich für Eltern also ein ein pädagogisches Betätigungsfeld, Runenkenntnis in reizvollem Kontext an den Nachwuchs weiterzugeben, wobei es ohne reichhaltige Schreibübungen nicht geht.

4. Und dann gibt es da noch den magischen Kontext, in dem Runen immer noch häufige Verwendung finden. Wer dabei allerdings meint, unbedingt authentische altnordische Formeln nutzen zu müssen, die man in einem entsprechenden Fachbuch entdeckt hat, sollte konsequenterweise die Authentizität dann aber auch bei der Ritzung der Runen umsetzen, indem dazu das jüngere Futhark mit seinen ganz eigenen und nicht ganz einfachen Regeln genutzt wird. Altnordische Texte in Runen des älteren Futhark ausdrücken zu wollen, ist zwar nicht unmöglich, wenn man einige von dessen Lautwerten manipuliert, eine solche Ignoranz gegenüber der eigenen religiösen und kulturgeschichtlichen Tradition sollte aber gerade von Heiden doch lieber vermieden werden.

Als sich im frühen Mittelalter die vormals einheitliche germanische Sprache in verschiedene Zweige aufzuspalten und sich das Nordgermanische als eigenständige Variante zu entwickeln begann, wurde offenbar empfunden, dass das ältere Futhark dem nicht mehr gerecht werden konnte. Deshalb wurden in Form der angelsächsischen und skandinavischen Varianten neue Formen entwickelt, die den veränderten Sprachformen auch lautlich Rechnung tragen konnten. Im ersten Fall wurden etliche neue und zusätzliche Runenformen entwickelt, was die naheliegendste Lösung des Problems darstellte. In den Formen des jüngeren Futhark Skandinaviens dagegen ging man einen umgekehrten Weg: Im Lauf des 7. bis 8. Jahrhunderts reduzierte man die 24 Zeichen auf 16, wobei sie in etlichen Fällen nicht nur graphisch ganz neu gestaltet wurden, sondern nun auch noch für unterschiedliche Phoneme (Lauteinheiten) stehen konnten – ein intellektuell erstaunlicher und in der Schriftgeschichte recht einzigartiger Prozess, dessen genaue Hintergründe in vielen Aspekten noch unklar sind. Wirklich nötig gewesen wäre das aus heutiger Sicht in dieser Radikalität nämlich nicht, sondern man hätte den überlieferten Runen in Einzelfällen einfach neue Lautwerte zuordnen können.

Wenn bereits mit dem Übergang zur skandinavischen Vendelzeit solches als nötig erachtet wurde, bringt unser Hochdeutsch uns bezüglich des älteren Futhark aber erst recht in eine Notsituation. Das allerdings liegt weniger an unserer Sprache, sondern viel mehr an unserem lateinischen Alphabet und unseren heutigen Regeln der Rechtschreibung. Die sich daraus ergebenden Probleme können aber leicht umgangen bzw. gelöst werden, wenn man sich zunächst einmal die absolute und eiserne Grundregel authentisch-runischer Schreibweise zu eigen macht, auf der auch alle folgenden Ausführungen beruhen, dass Wörter nämlich immer genau so geschrieben werden, wie sie auch ausgesprochen werden.

Gerade unter diesem Aspekt stellt der häufigste Fehler die Benutzung von KAUNAN bei der im Deutschen so häufigen Lautverbindung CH und SCH dar, wie man es regelmäßig findet. KAUNAN hat immer nur den Lautwert K verkörpert, deshalb ist die Rune zur Darstellung in dieser Lautverbindung völlig ungeeignet. Angesichts dessen, dass sowohl im Gemeingermanischen wie im Altnordischen das H eine wesentlich gutturalere Qualität hatte, also eher so ausgesprochen wurde, wie unser CH in „machen“, verbietet sich KAUNAN hier sowieso. Ein einfaches HAGLAZ für jedes CH, bzw. SOWILO-HAGLAZ für SCH wäre hier also gleichermaßen logischer wie befriedigender und völlig ausreichend. Eine zusätzliche individuelle Lösung könnte die Verwendung der unterschiedlichen HAGLAZ-Formen in der nordischen und kontinentalen Variante mit einem oder zwei „Zweigen“ (in diesem Fall Querstrichen) sein, die man für die verschiedenen lautlichen Qualitäten des deutschen CH nutzen könnte (z.B. bei der unterschiedlichen Aussprache des Lautes in „wachen“ und „weichen“). Im Fall einer weiteren Lautverbindung des CH käme KAUNAN aber sehr wohl zum Einsatz, nämlich z.B. bei „wachsen“, das runisch zu „waksen“ würde.

Der zweite häufige (und weit peinlichere) Fehler findet sich im Fall von ALGIZ. In den gängigen runischen Umschrifttabellen wird der Lautwert mit Z transkribiert, was aber sehr missverständlich ist. Dieses Z steht lautschriftlich nämlich für ein stimmhaftes („weiches“ bzw. „summendes“) S, wofür gerade viele der Runennamen mit ihrer Endung das nächstliegende Beispiel darstellen. Die meisten Heiden dürften (hoffentlich) verinnerlicht haben, dass z.B. der Runenname ANSUZ eben nicht „Ansutz“ ausgesprochen wird. Im Germanischen fand sich ein solch stimmhaftes S nie im Anlaut, sondern immer nur am Ende eines Wortes. Das ist im heutigen Deutschen genau umgekehrt, wo das S am Wortanfang immer stimmhaft ist, ein solches am Wortende aber nicht mehr existiert. Lediglich in einigen süddeutschen Dialektgebieten hat sich das stimmlose („scharfe“ bzw. „zischende9) S als Anlaut erhalten. Die klare Konsequenz wäre also: SOWILO für stimmloses und ALGIZ für stimmhaftes S. Allerdings spräche im Sinne einer Vereinfachung auch wenig dagegen, ALGIZ ganz fallen zu lassen und SOWILO für beide Formen des S wie auch für das -ß- zu verwenden, dessen Lautgestalt ja nicht von dem stimmlosen S abweicht. Das deutsche Z wiederum wäre seiner Aussprache als TS wegen folgerichtig durch TIWAZ-SOWILO auszudrücken. Die „Wurzel“ würde runisch also zur „Wurtsel“.

Die deutschen Umlaute sind einfach in den Griff zu bekommen: Entweder macht man sie wie in der alten deutschen Schriftsprache durch ein dem Vokal angehängtes E deutlich, oder man belässt es bei dem einfachen Vokal – ein ebenfalls legitimes Vorgehen, wenn man die Praxis im jüngeren Futhark bedenkt, wo die entsprechenden Runen ganz unterschiedliche Vokale und auch Umlaute repräsentieren konnten. Angesichts späterer Tradition „punktierter“ Runen, wobei z.B. das K des jüngeren Futhark mit einem Punkt über dem Zweig zum G wurde, wäre somit auch die Punktierung wie in der heutigen Schriftsprache eine gangbare Möglichkeit für individuelle Lösungen bei den Umlauten.

Unser lateinisches Alphabet beinhaltet seiner Herkunft wegen einige für die deutsche Sprache völlig überflüssige Buchstaben, die aber gerade deshalb einfach zu umgehen sind. Da haben wir zunächst das Q. Da es allerdings nur in der Kombination QU auftaucht, ist die Auflösung KAUNAN-WUNJO die naheliegendste Lösung. Die „Quelle“ würde runisch somit zur „Kwelle“. Der nächste Fall ist das V, das seiner Aussprache als F wegen durch FEHU darzustellen wäre. Das seltene X ist natürlich einfach als KAUNAN-SOWILO aufzulösen, da seine lautliche Qualität z.B. in „mixen“ keinen Unterschied zu dem identischen Laut in „wachsen“ darstellt. Der dritte dieser exotischen Buchstaben ist das Y, das als gesprochenes Ü den im letzten Abschnitt vorgeschlagenen Umlautregeln unterliegen würde. Der letzte zu dieser Gruppe gehörende Buchstabe ist das Z, dessen Umsetzung bereits im vorletzten Abschnitt behandelt wurde. Auch im Futhark wird allerdings eine Rune für unsere Sprache überflüssig, nämlich ÞURISAZ, da das damit ausgedrückte stimmlose TH (wie im englischen „thing“) im Deutschen nicht mehr existiert. Dieser Aussprache wegen verbietet sich die Verwendung der Rune auch in den Fällen, wo die Buchstabenverbindung TH im Deutschen auftaucht („Theorie“ oder „Nothilfe“).

Als letzter Fall bleiben die Diphthonge. Mit diesem Begriff bezeichnet man in der Sprachwissenschaft zusammengesetzte Laute, wobei im heutigen Deutschen für unser Thema nur zwei von Bedeutung sind: EU und EI. Da EU (wie auch ÄU) als OI gesprochen wird, würde nach runischer Praxis der „Beutel“ also zum „Boitel“. Schwieriger wird es es bei dem häufigen EI (gesprochen als AI). Das liegt daran, dass es einige Unsicherheit darüber gibt, für welche Laute die Runen ISAZ und IWAZ ursprünglich standen. Man vermutet, dass ISAZ sich aus EISAZ entwickelt hat und anfangs für den Diphtong EI bzw. ÄI stand, wohingegen das I durch IWAZ ausgedrückt wurde. Da sich durch Wandel der Sprache aber schon früh dieser Diphthong verlor und zum I wandelte, wurde EISAZ zu ISAZ, wodurch IWAZ nun überflüssig wurde. Das würde auch erklären, warum IWAZ nur in ältesten Inschriften auftaucht und danach schnell völlig außer Gebrauch geriet. Unser heutiges EI könnte man zwar einfach durch ANSUZ-ISAZ ausdrücken (das „Bein“ würde also zum „Bain“), man könnte für diesen Diphthong aber auch die „Eibenrune“ IWAZ reaktivieren. Da sich der Rune sonst kein anderer Laut zuweisen ließe, würde sie andernfalls genau so überflüssig wie ÞURISAZ. Das hätte auch den praktischen Vorteil, dass man diese im Deutschen sehr häufige Lautverbindung durch eine einzige Rune ausdrücken könnte. Ganz streng genommen wäre es sprachgeschichtlich zwar umgekehrt korrekter (IWAZ für I und ISAZ für EI), dafür aber dürfte ISAZ für I heute einfach zu verwurzelt zu sein. Kein Diphthong, aber ebenfalls ein zusammengesetzter Laut, nämlich unser NG, wird von der Rune INGWAZ dargestellt. Die darf man dann auch gerne für den entsprechenden Laut nutzen, so z.B. in „Ring“, nicht aber, wenn die Buchstabenverbindung anders ausgesprochen wird, wie z.B. in „Birkengrün“.

Zum Schluss noch ein paar Hinweise für diejenigen, die es ganz und gar authentisch haben möchten: Nasale (im Deutschen N und M) vor homorganen (an derselben Stelle im Mund gebildeten) Konsonanten wurden runisch nicht geschrieben. Das würde sich im Deutschen auf die Lautverbindungen NT bzw. ND und MP bzw. MB beschränken. An Hand eines konkreten Beispiels: In dem Wort „Winter“ würde das N wegfallen, wie auch das M in dem Wort „Pumpe“. Warum das so war, wissen wir nicht. Die in diesem Fall naheliegendste Erklärung dafür ist aber, dass die Aussprache des Nasals dabei so vage war, dass er als eigenständiges Phonem lautlich kaum erkennbar war. Doppelkonsonanten, die eine Kurzsprechung des vorangehenden Vokals signalisieren („Hütte“), waren runisch genauso ungeläufig wie das Gegenteil, nämlich die Dehnung des Vokals durch angehängtes H („Reh“), Vokalverdoppelung („Klee“), ein dem I angehängtes E („Knie“) oder gar Kombination dieser Mittel („Vieh“). Die Anwendung auch dieser Regeln würde allerdings heißen, die Authentizität bis an die Schmerzgrenze zu treiben, da bei ihrer Anwendung das Ergebnis zunehmend unverständlicher würde und Falschlesungen vorprogrammiert wären, weil dann z.B. die „Ratte“ zu einer „Rate“ und die „Hütte“ zur Mehrzahl von „Hut“ würden. Auch das zur Verkürzung des vorhergehenden Vokals dienende CK mag man im Einzelfall durch verdoppeltes K ausdrücken, um die „Backe“ nicht zur „Bake“ werden zu lassen.

Diese Vorschläge und ihre Umsetzung mögen manchen zunächst sehr gewöhnungsbedürftig erscheinen. Abgesehen davon, dass sie sowieso lediglich als reine Anregung für die gedacht sind, die Bedarf dafür und/oder Freude an entsprechenden Versuchen haben, sprechen aber zwei gewichtige Gründe für diesen Lösungsweg: Zum einen ist man damit auf einen Schlag alle Probleme los, die sich aus der starren Übertragung unseres Alphabets bzw. unserer Rechtschreibregeln dabei sonst immer ergeben, und zum anderen würde man damit authentisch genau der historischen Praxis der Runenmeister aus alter Zeit folgen.

Anmerkung

Im Fall der Wahl und Schreibweise der erschlossenen ältesten Runennamen bin ich in diesem Beitrag den bei Düwel angegebenen Formen der deutschen Forschungstradition gefolgt, also KAUNAN statt KENAZ, LAGUZ statt LAUKAZ usw.:

Düwel, Klaus: Runenkunde. 3. Aufl., Stuttgart 2001. (Sammlung Metzler, 72)

Erschienen 2008 in Herdfeuer 22

Probleme und Chancen religiöser Erziehung

von Kurt Oertel

Es ist nur zu verständlich, wenn verantwortungsbewusste Eltern die eigenen Wertmaßstäbe und religiösen Überzeugungen an ihre Kinder weiterreichen wollen. Jeden von uns dürfte die Aussicht mit Befriedigung erfüllen, dass unsere Kinder in ungebrochener Tradition die Fackel des Glaubens nicht nur bereitwillig annehmen, sondern sie auch ihrerseits weitergeben. Frischgebackene Eltern und solche, die es noch werden wollen, sind in dieser Frage allerdings meistens von einem noch ungedämpften Idealismus und Optimismus erfüllt. Erfahrenere Vertreter der Gattung dagegen kennen jenen tückischen Abgrund, der sich stets zwischen pädagogischer Theorie und der Praxis des Alltags auftut. Deshalb muss man sich nicht nur der Frage stellen, wie man reagieren sollte, wenn die eigenen religiösen Sozialisierungsversuche gründlich misslingen, sondern auch der, was man realistischerweise dabei überhaupt von Kindern erwarten kann und darf.

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Die Angeln und der Ursprung der Engländer

von Kurt Oertel

Die ursprüngliche Heimat der Angeln liegt im Süden der jütischen Halbinsel in einem Gebiet, das Teile des heutigen Schleswig-Holsteins und südlichen Dänemarks umfasst. Das eigentliche Kernland dieser Gegend, die Ostsee-Region zwischen der Flensburger Förde und der Schlei, trägt auch heute noch den Namen Angeln, wobei aber sicher scheint, dass nicht die Gegend nach dem Volk, sondern umgekehrt das Volk nach diesem wohl älteren Landschaftsnamen benannt ist, der einfach nur „Enge“ oder „Winkel“ bedeutete. Die Angeln lebten in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Sachsen im Südwesten, den Langobarden im Südosten und den Jüten im Norden (die noch nichts mit den Dänen zu tun hatten, die erst später aus Südschweden zuwanderten). Der alte Machtbereich der Angeln muss allerdings weit größer gewesen sein als die heutige gleichnamige Gegend, denn andernfalls hätten sich ihre späteren Wanderungsbewegungen nicht so eindeutig in das Nordseegebiet gerichtet. Sprachwissenschaftlich bezeichnet „anglisch“ zwei altenglische Dialekte, die uns aus den englischen Gegenden Northumbria und Mercia des 8. Jahrhunderts belegt sind. Ob die sich direkt auf das Anglische der Schleswig-Holsteiner zurückleiten lassen, ist dabei eine müßige Frage. Für Letzteres haben wir außer ein paar Personennamen und frühen Runeninschriften nämlich keine Zeugnisse, und die zeigen, dass sich das Germanische damals noch kaum in die späteren Zweige auseinanderentwickelt hatte. Erstmals erwähnt werden die Angeln von Tacitus in seiner Germania, der sie unter den Nerthus-Verehrern aufzählt. Ob er sie den Sueben zurechnet, die am Angang des nächsten Kapitels erwähnt werden, ist wegen der schwierigen Bezüge im lateinischen Original unklar. Das aber tut 50 Jahre später Ptolemaios, lokalisiert den Stamm aber völlig falsch, wenn sein Begriff Sueben Angeilen (Suhbwu tou Aggeilwu) sich denn überhaupt auf die Angeln bezieht. Archäologische Funde scheinen zu bestätigen, dass sie nicht schon immer in Schleswig-Holstein lebten, sondern im Lauf des 1. Jahrhunderts v.d.Z. langsam aus den suebischen Gebieten an der oberen Elbe zuwanderten.

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Ostara – eine germanische Göttin?

von Kurt Oertel

Gegen die Existenz dieser Göttin werden in regelmäßigen Abständen (meistens pünktlich zu Ostern) auch in populären Medien heftige Zweifel vorgebracht. Hier eine Bestandsaufnahme der Fakten und Argumente. Gegen die Existenz einer germanischen Göttin mit dem Namen Ostara, die mit einem Frühlingsfest verbunden gewesen sein soll und auf deren Namen das heutige Osterfest zurückgeht, sind sehr viele Bedenken vorgebracht worden. Die Skepsis ist auch nicht ganz unberechtigt.

Andererseits sind die Indizien aber doch nicht so schlecht, wie vielfach behauptet. Vor allem die oft und völlig kritiklos nachgebetete Behauptung, Jacob Grimm habe diese Göttin erst nachträglich aus dem Namen des Osterfestes erschlossen, verrät grundlegende Unkenntnis der Quellen und stellt die Tatsachen auf den Kopf. Denn Grimm bezog sich ja gerade auf eine alte Quelle, die die Existenz der Gottheit behauptet:

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Lokis Spuren auf den Färöern

von Kurt Oertel

Die abgelegenen Färöer, eine Gruppe von ca. 25 baumlosen Felseninseln im Nordadtlantik zwischen Schottland und Island, von denen 17 bewohnt sind, wurden (genau wie Island) ab ca. 800 von Norwegen aus besiedelt. Die Inseln sind meist nur durch schmale Sunde mit starker Gezeitenströmung voneinander getrennt, und ihre Hauptstadt trägt noch den sympathischen Namen Tórshavn. Bis 1035 waren sie unabhängig, gehörten dann zu Norwegen und fielen mit diesem 1380 an Dänemark. Zu Dänemark gehören sie auch heute noch, gleichwohl sie 1948 Autonomie in allen inneren Angelegenheiten erhielten. Die färöische Sprache geht direkt auf das Altnordische zurück, zerfiel aber trotz des sehr überschaubaren Gebietes in etliche Dialekte und ist heute Muttersprache von lediglich ca. 45.000 Menschen. Ab dem 14. Jahrhundert verlor sich auf den Inseln jegliche Schriftkenntnis, sodass die Gesellschaft bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine gänzlich schriftlose Kultur darstellte, ein für die Neuzeit in Europa einzigartiger Fall. Erst ab 1846 schuf V. U. Hammershaimb eine moderne färöische Rechtschreibung, und da er das nach rein etymologischen Prinzipien ohne Rücksicht auf die Aussprache tat, steht die heutige Schriftform des Färöischen dem ursprünglichen Altnordischen noch ebenso nahe wie das moderne Isländisch.

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