Probleme und Chancen religiöser Erziehung

von Kurt Oertel

Es ist nur zu verständlich, wenn verantwortungsbewusste Eltern die eigenen Wertmaßstäbe und religiösen Überzeugungen an ihre Kinder weiterreichen wollen. Jeden von uns dürfte die Aussicht mit Befriedigung erfüllen, dass unsere Kinder in ungebrochener Tradition die Fackel des Glaubens nicht nur bereitwillig annehmen, sondern sie auch ihrerseits weitergeben. Frischgebackene Eltern und solche, die es noch werden wollen, sind in dieser Frage allerdings meistens von einem noch ungedämpften Idealismus und Optimismus erfüllt. Erfahrenere Vertreter der Gattung dagegen kennen jenen tückischen Abgrund, der sich stets zwischen pädagogischer Theorie und der Praxis des Alltags auftut. Deshalb muss man sich nicht nur der Frage stellen, wie man reagieren sollte, wenn die eigenen religiösen Sozialisierungsversuche gründlich misslingen, sondern auch der, was man realistischerweise dabei überhaupt von Kindern erwarten kann und darf.

Religiöse Erziehung ist in unserer heutigen Gesellschaft immer ein Drahtseilakt mit völlig ungewissem Ausgang, und wenn überhaupt eine eigene Erfahrung daraus zu gewinnen ist, dann im Nachhinein (wenn es zu spät ist) wahrscheinlich die, wie man alles hätte besser machen können. In jedem Fall werden entsprechende Konflikte unvermeidlich sein, und sei es nur deshalb, weil die Nachgeborenen in bestimmten Altersphasen schon aus Prinzip grundsätzlich alles anders machen wollen, als ihre Eltern es für gut befänden. Und das muss auch so sein, weil es notwendiger Bestandteil des jugendlichen Reifungs- und Abnabelungsprozesses vom Elternhaus ist. Man muss aber darauf vorbereitet sein, dass sich das auch – oder sogar gerade – im religiösen Bereich äußern wird, und sollte dann darüber nicht sonderlich schockiert sein, denn eben das ist dabei meistens eines der sehnsüchtig erhofften Ziele des Nachwuchses.

Zum besseren Verständnis des Problems sollten wir einmal kurz unsere Sichtweise wechseln und uns daran erinnern, dass auch wir alle Kinder von Eltern sind, und auch wir in unserem gegenwärtigen Glauben und unserer Lebensweise in den weitaus meisten Fällen nicht den Erwartungen unserer Eltern entsprechen, sondern unseren eigenen Weg gegangen sind. Hier dürfte jeder von uns seine ganz individuelle Geschichte haben, wie sich dieser Trennungsprozess gestaltet hat, und vor allem, wie die eigenen Eltern damit umgegangen sind bzw. es immer noch tun. In vielen Fällen dürfte das Elternhaus nur nominell christlich sein und sich das eigentliche Befremden unserer Eltern nicht so sehr an der Abkehr ihrer Kinder vom Christentum entzünden, sondern einfach daran, dass man Religion überhaupt ernst nimmt. In solchen Fällen ist recht einfach zu argumentieren, da es doch fast immer gerade die eigenen Eltern waren, die einen erstmals in die Kirche getrieben, dem schulischen Religionsunterricht preisgegeben und überhaupt mit dem Thema vertraut gemacht haben. Sich nun zu wundern, dass die Therapie auch angeschlagen hat, entbehrt dann nicht einer gewissen Komik. Schwerwiegender sind die Fälle, in denen die Eltern tatsächlich überzeugte Christen sind oder man in ländlicher Gegend mit entsprechend sozialem Druck lebt, dessen mögliche Konsequenzen man nicht unterschätzen sollte. Da gilt es dann, sehr behutsam zu agieren, und in solchen Fällen kann es tatsächlich weiser sein, sich überhaupt nicht zu outen. Die in so manchen heidnischen Äußerungen zu Tage tretende Bekenntnissucht ist jedenfalls vom Wesen her sehr viel christlicher geprägt, als es deren Befürwortern meistens bewusst ist.

Die Reflexion über das diesbezügliche Verhältnis zu unseren Eltern sollte denn auch immer Richtschnur unserer Erziehungsbemühungen bei den eigenen Kindern sein. Damit meine ich, dass das, was wir den eigenen Eltern oft vorzuwerfen haben, nämlich mangelnde Toleranz und Verständnisbereitschaft, allzu schnell zu einer Falle werden kann, in die man selbst hineintappt. Deshalb sollten gerade wir uns aus der eigenen Erfahrung heraus davor hüten, von unseren Kindern wie selbstverständlich zu erwarten, dass sie auch unser religiöses Weltbild übernehmen. So menschlich verständlich und wünschenswert das auch scheinen mag, gerät man hier doch leicht in gefährliche Nähe jener oft anzutreffenden heidnischen Bigotterie, die sich einerseits selbstbewusst auf die Religionsfreiheit und den Pluralismus unserer Gesellschaft beruft (und davon auch unendlich profitiert), andererseits aber im geheimen wieder von einer rückwärts gewandten Stammesgesellschaft mit einheitlich heidnischem Glauben träumt.

Es stellt sich die Frage, ob wir es unseren Kindern überhaupt wünschen sollten, den Glauben der Eltern unreflektiert so zu übernehmen, wie es früher in unserer christlichen Gesellschaft die Regel war. Berauben wir sie damit nicht gerade eines für sie wichtigen Selbstfindungsprozesses? Steht dahinter nicht der egoistische Wunsch, die Kinder zu Ebenbildern unser selbst formen zu wollen? Das konsequente Durchdenken dieser Frage führt zwangsläufig zu folgender Erkenntnis:

Wenn wir unseren Kindern in religiöser Hinsicht wirklich etwas mitgeben können, kann das nur im Wesen der Spiritualität selbst bestehen, nicht aber in deren spezifischen Inhalten. Und wenn das in einer von schnelllebigem Konsum und materialistischer Oberflächlichkeit geprägten Welt überhaupt gelingt, ist das schon sehr viel. Auch hier mag ein abermaliger Blick auf die eigene Biographie hilfreich sein: Wir alle dürften erst nach längerer Suche zu unserem gegenwärtigen Glauben gelangt sein, einer Suche, bei der man zahlreiche Irrwege, Umwege und Sackgassen durchwandert hat. Aber genau das ist das Wesen einer jeden Suche, wobei einen der Weg selbst immer sehr viel nachhaltiger formt, als ein vermeintlich erreichtes Ziel. Menschen, die von der Kindheit bis zum Grab unbeirrt einer begrenzten religiösen Sichtweise anhängen, offenbaren dadurch oftmals nur eine Unfähigkeit zu persönlichem Wachstum. Und gerade diejenigen unter uns, die in noch vergleichsweise jungem Lebensalter stehen, sich aber als „stark im Glauben“ betrachten, sollten darauf gefasst sein, dass ihr religiöses Weltbild durch zunehmende Lebenserfahrung und unerwartete Schicksale noch so manchem Wandel und Bruch unterworfen sein wird. Glücklicherweise lässt das Heidentum aber einen sehr großen Raum für die individuelle Weiterentwicklung eigener Spiritualität zu. Wenn wir also unsere eigenen Lebensgeschichten und unser Verhältnis zu den Eltern als Maßstab nehmen, dürfen wir gerade deshalb unseren Kindern eben diese Suche nach ihrer eigenen religiösen Selbstbestimmung nicht verwehren. Wir müssen sie sogar ausdrücklich dazu ermutigen, auch wenn sich diese Suche inhaltlich von unseren eigenen Glaubensvorstellungen entfernen mag. Denn bereits der Aufbruch zu dieser Suche an sich ist das beste Ergebnis, auf das man erziehungstechnisch überhaupt hoffen kann, und gerade sie trägt mehr als alles andere den fruchtbaren Keim fortschreitender eigener Reifung und der Fähigkeit zur Selbsterziehung in sich, die wir unseren Kindern doch von tiefstem Herzen wünschen. Und der Anstoß zu dieser eigenen Suche ist der einzige Samen, den wir wirklich pflanzen können.

Damit soll auf keinen Fall einem laissez-faire oder gar einer Ignoranz das Wort geredet werden, wobei man Kinder in gutwilliger Absicht überhaupt nicht religiös erzieht, damit sie zu gegebener Zeit ihre Wahl „völlig frei“ treffen können. Denn solchen Kindern geht dadurch nicht nur die nötige religiöse Grundsozialisation, sondern auch jede Immunisierung gegen offensichtlichen religiösen Schwachsinn ab. Und gerade diese Kinder sind deshalb später oftmals die einfachsten und willigsten Opfer berüchtigter evangelikaler Freikirchen und notorischer Psychosekten. Selbstverständlich darf und soll man Kinder in der eigenen Religion erziehen, aber nicht, ohne ihnen zu gegebener Zeit zu eröffnen, dass es auch andere Religionen und damit unterschiedliche Sichtweisen gibt, denen man ihre grundsätzliche Berechtigung nicht absprechen sollte. Man kann das nur nach bestem Vermögen und Gewissen leisten und kann selbst dann nur auf das Beste hoffen. Wenn dann noch eine gelebte Vorbildfunktion dazukommt (und zwar auch in Sachen Toleranz), stehen die Chancen aber nicht schlecht.

Ein Problem besteht auch darin, dass unsere Kinder noch kaum die Möglichkeit haben, innerhalb heidnischer Gemeinden aufzuwachsen. Sie – wie auch wir – werden auf unabsehbare Zeit Einzelgänger inmitten Andersgläubiger sein. Darüber sollte man sich keinen unrealistischen Träumen hingeben. Das Problem verschärft oder vermindert sich zwar je nach Wohnort – so dürfte das im ländlichen Bayern gravierender sein als in einer Großstadt Norddeutschlands oder in den Neuen Bundesländern. In jedem Fall aber gilt es, alle Entscheidungen zu Fragen religiöser Erziehung auch deshalb sehr behutsam abzuwägen, weil man einem Kind nur wenig Schlimmeres antun kann, als es der elterlichen religiösen Überzeugungen wegen zum sozialen Außenseiter unter seinesgleichen zu machen. Zu dieser Frage aber gibt es keine Patentrezepte oder allgemeingültigen Ratschläge, da hier immer sehr individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Das ist nicht nur vom sozialen Umfeld, sondern mindestens ebenso von der Persönlichkeit des Kindes selbst abhängig. Ein starkes Kind, das möglicherweise sogar eine führende Rolle unter seinesgleichen einnimmt, kann aus der Besonderheit seiner Religion Stolz und Selbstbewusstein beziehen. Für ein schwaches Kind, das auch so schon Anschlussprobleme hat, kann seine zusätzliche religiöse Isolation eine psychologische Katastrophe bedeuten.

Was aber nun, wenn bei den eigenen Kindern wirklich das eintritt, was viele von uns als „größten anzunehmenden Unfall“ betrachten mögen? So schmerzlich es uns auch ankommen mag, wenn unsere Kinder im Extremfall als überzeugte Christen enden, so sollten gerade wir in dem Fall auch zu jener Toleranz fähig sein, die wir für unsere Religion von Andersgläubigen immer so vehement einfordern. Religion soll Kraft und Stärke für das eigene Leben verleihen, nicht umgekehrt. Und diesen Aspekt aktiver Lebenshilfe hat man tunlichst auch anderen Religionen zuzubilligen, wobei spitzfindige theologische Diskussionen in der Praxis wenig hilfreich sind. Vor allem aber sollte man die Weisheit verinnerlichen, die Religion niemals über den Menschen selbst zu stellen.

Erschienen 2006 in Herdfeuer 13

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