Was ist Heidentum?

von Kurt Oertel

Da vielen Menschen überhaupt nicht klar ist, was der Begriff Heidentum ursprünglich und in heutigem Selbstverständnis genau bezeichnet, wird das hier einmal sehr allgemeinverständlich aufgezeigt.

Der Begriff Heidentum löst oft große Missverständnisse aus, die meist aus Nichtwissen resultieren. Deshalb soll hier einmal allgemeinverständlich dargelegt werden, was der Begriff eigentlich bedeutet. Über lange Zeit wurde er gerade kirchlicherseits und auch in allgemeinem Sprachverständnis mit Atheismus, also dem Leugnen von Religion schlechthin, gleichgesetzt oder aber generell auf alle nichtchristlichen Religionen angewandt. Heidentum ist aber nichts weiter als die Selbstbezeichnung jener Religionen, die in Europa vor Einführung des Christentums herrschten. Dazu gehörten nicht nur die bekannteren Religionen der Griechen und Römer, sondern auch die der Nordeuropäer, also die der Slawen, Kelten, Balten, Germanen, Finnen usw.

Die vorchristlichen Religionen Nord-Europas werden auch oft als „Naturreligionen“ bezeichnet, so wie viele ähnliche Religionen in anderen Teilen der Welt auch. Aber dieser Begriff ist sehr missverständlich, denn viele Leute stellen sich dabei vor, dass Anhänger von Naturreligionen Tiere, Felsen oder Bäume anbeten würden. Das ist natürlich völliger Unsinn. Zwar wird die Natur sehr viel mehr als gleichberechtigte Schöpfung angesehen, angebetet aber wird sie nie. Solche Vorstellungen gehen ausschließlich auf das Unverständnis früher Missionare zurück, die nicht-christliche Frömmigkeit nur als „Geisterfurcht“ und deren Gebete und Riten nur als „primitive Magie“ ansehen konnten. Die Anhänger solcher Religionen wurden als unreife Kinder angesehen, die nicht zu einem Gott, sondern zu „Götzen“ beteten, die dann im schlimmsten Fall als „Dämonen“ oder gar gleich als der Teufel selbst bezeichnet wurden. Deshalb soll auf ein weitverbreitetes Missverständnis gleich an dieser Stelle hingewiesen werden: Heiden sind keine Satanisten. Das können sie gar nicht sein, denn um an die Existenz eines Satan überhaupt zu glauben, muss man zunächst einmal 150-prozentiger Christ sein, und genau das sind Heiden eben nicht. Das Heidentum kennt keinen Teufel und keine Hölle. Genausowenig hat das Heidentum etwas mit Esoterik oder Okkultimus zu tun, denn diese Begriffe bezeichnen sogenannte Geheimlehren, die nur ausgewählten Personen zugänglich gemacht werden. Bei den heidnischen Religionen gibt es aber keine Geheimnisse oder Geheimlehren, genauso wenig wie bei den meisten anderen Religionen, sondern es war schlicht und einfach die allgemeine Volksreligion unserer Vorfahren.

Leider wird auch heute noch der Begriff „Heidentum“ oft mit der Vorstellung barbarischer Wilder verbunden, die irgendwelche finsteren und grausamen Rituale vollführten. Dieses Klischee zieht sich durch Bücher und Filme und wurde früher tatsächlich sogar auch in der Schule gelehrt (wobei dann natürlich geflissentlich verschwiegen wurde, dass z.B. auch Goethe und Schiller bekennende und überzeugte Heiden waren). Viele Menschen sind im Religionsunterricht noch mit solchen Vorstellungen gefüttert worden, als diese schon längst überholt waren. Vorurteile sind oft schwer auszurotten, aber leicht weiterzugeben, auch (oder gerade!) wenn sie auffällig kindisch sind. Aber dem Christentum war es über Jahrhunderte zur Gewohnheit geworden, alle anderen Religionen als minderwertig anzusehen, und Naturreligionen wurden als geradezu „primitiv“ angesehen. Diese Auffassung liegt nicht nur an der langen Verteufelung der alten Religionen durch das Christentum, sondern auch an einer naiven Fortschrittsgläubigkeit, die es als selbstverständlich ansieht, dass der moderne Mensch wegen der rasanten Fortschritte in Wissenschaft und Technik den Menschen früherer Zeiten auch sittlich überlegen sei. Und genau das ist ein sehr großer Irrtum.

Besonders ärgerlich aus heidnischer Sichtweise sind viele Filme und Romane, die Welten aus einer uralten Zeit entstehen lassen und in denen es von Magiern, Priesterinnen und geheimnisvollen Gottheiten wimmelt. All das soll „Heidnisches“ darstellen, es basiert aber fast immer völlig auf dem christlichen Konzept eines ewigen Kampfes des Guten gegen das Böse, wobei das Böse immer die Welt versklaven will. Das ist eine ausschließlich christliche Sichtweise der Welt, die nichts mit einem heidnischen Weltbild zu tun hat, denn einen solch christlichen Dualismus zwischen absolut gut und absolut böse gibt es im Heidentum nicht. Gerade diese christliche Vorstellung der Dualität, der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, ist auch noch in den Köpfen von Menschen vorherrschend, die sich überhaupt nicht für christlich beeinflusst oder sogar für atheistisch halten, ohne dass sie merken würden, wie sehr ihr natürliches Denken dadurch zerstört worden ist, dass sie nicht mehr abwägen, die Dinge nicht mehr aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten können und von einem Extrem ins andere fallen. Auch im Heidentum gilt es, eine Balance zwischen guten und eher schädlichen Strömungen und Kräften zu halten, aber das funktioniert auf sehr viel harmonischere Weise und kommt ohne die Vorstellung des absolut Bösen aus. Die Erklärung menschlicher Dummheit, allzu verständlicher Schwächen, Fehler und Unzulänglichkeiten reicht in der Regel aus, um hinreichend zu erklären, warum es mit der Welt nicht gerade zum Besten bestellt ist.

Der Begriff „Naturreligion“ wird vor allem dazu benutzt, um ihn von dem der „Offenbarungsreligion“ zu unterscheiden. Unter Offenbarungsreligion versteht man eine Religion, die auf einen einzelnen Gründer zurückgeht und die er selbst (oder seine direkten Anhänger) in schriftlicher Form niedergelegt hat. Eine solche Schrift gilt dann als „heilig“ und unveränderbar. Der Religionsgründer behauptet, diese Schrift selbst von Gott „empfangen“ zu haben. Alle Anhänger dieser Religion sind somit gezwungen, jedes Wort dieser Verkündigung für bare Münze zu nehmen. Eigene religiöse Erfahrungen sind nicht erwünscht, da sie ja der offiziellen Lehre widersprechen könnten. Als „Vermittler“ zwischen den Menschen und dem Göttlichen gibt es vielmehr eine Priesterschaft, die den göttlichen Willen und die Worte der Schrift nach eigenem Gutdünken oder jeweiliger Notwendigkeit „auslegt“.

Naturreligionen dagegen besitzen weder einen Gründer, der sich das alles ausgedacht hat, noch „heilige Schriften“. Solche Schriften, die in bestimmten historischen Zusammenhängen entstanden sind und für diese Zeiten vielleicht gültig waren, müssen im Lauf von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden natürlich unverständlich werden. Es bedarf dann großer Spitzfindigkeit und Manipulation, einen Text, der z.B. für ein vergleichsweise winziges nomadisches Volk aus dem Alten Orient vor 3000 Jahren seine Gültigkeit gehabt haben mag, für heutige nordeuropäische Gegebenheiten als „Wahrheit“ auszulegen bzw. überhaupt noch auf völlig veränderte gesellschaftliche Realitäten anwenden zu können.

Auf religiöser Autorität basieren Naturreligionen zwar auch, doch bei ihnen entspringt sie einer anderen Quelle. Was man glauben und tun soll, das sagt den Christen ihre Kirche, die sich dabei auf Konzile, Synoden und Bekenntnistexte beruft. Deren Antworten lauten einheitlich und grenzen zugleich eine Konfession gegen die andere streng ab. Das sucht man in Naturreligionen vergeblich. Dort beruht religiöse Autorität auf Erfahrung. Weil jeder Mensch neue und andere Erfahrungen macht, lehrt und handelt er auch anders als andere, vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Weltsicht versteht sich. Doch würde niemand aus Unterschieden in Lehre oder Praxis eine Abgrenzung von „wahrem“ oder „falschem“ Glauben folgern, wie es sich im religiösen Verständnis unserer Gesellschaft eingebürgert hat.

Naturreligionen beruhen also insgesamt weniger auf reinem „Glauben“, sondern auf konkreter und für alle nachprüfbarer Erfahrung. Dort werden Weisheiten nicht schriftlich fixiert, sondern mündlich weitergegeben. Mündliche Überlieferung aber passt sich stets den notwendigen Gegebenheiten an, ohne dass deswegen die symbolischen Bilder selbst verändert werden müssen. Dazu kommt, dass Naturreligionen Techniken kennen, die jedem Menschen helfen können, einen Kontakt mit höheren Mächten selbst herzustellen, selbst Antworten zu finden und Wahrheiten konkret überprüfen zu können und sich nicht auf letztlich unüberprüfbare Aussagen irgendwelcher Gurus, Priester oder angeblich „heiliger“ Schriften zu verlassen. Wenn z.B. ein junger Indianer seine Vision sucht und sich dazu unter Fasten und anderen Techniken lange in die Einsamkeit zurückzieht, kommt er danach mit Antworten zurück, nicht mit vagen Vermutungen. Dass auch Jesus genau dieselbe Technik anwandte, die auch zu denselben Ergebnissen führte, als er vierzig Tage in die Wüste ging und dort seine Vision hatte, scheint dabei kaum einem Christen bewusst zu sein. Und er sagte nicht „Betet mich an“, sondern „Folget mir nach“ (d.h. geht denselben Weg, den auch ich gegangen bin, um zu ähnlichen Erkenntnissen zu gelangen). Auch die katholische und die griechisch/russisch-orthodoxe Kirche kannte in früherer Zeit noch diese Techniken. Sie kennt sie immer noch, vermittelt sie aber bezeichnenderweise nicht mehr bzw. nur noch in klösterlichem Umfeld.

Die christliche Vorstellung eines „Heils“, das bereits von Gott selbst ein für allemal erwirkt ist, gibt es im Heidentum nicht. Dort bleibt es Aufgabe der menschlichen Gemeinschaft, im Zusammenhang mit göttlichen und natürlichen Kräften, dieses „Heil“ zu erwirken. Diese Aufgabe wird als Verantwortung für den Fortbestand einer harmonisch funktionierenden Welt gesehen, auf Gleichgewicht und soziale Ausgewogenheit, und das lenkt die religiöse Aufmerksamkeit und Hinwendung notwendigerweise auf das Hier und Jetzt der Gegenwart. Deshalb sind Heiden auch keine frömmelnden „Jenseits-Apostel“, sondern Menschen, die mit beiden Beinen fest im täglichen Leben stehen und für die das Handeln mehr zählt als fromme Gedanken und Worte. Natürlich kennt man auch im Heidentum eine göttliche Kraft, die in allem wirkt und erkennbar ist. Diese erfahrbare Kraft ist aber gerade für die schwer fassbar, die sie nie erlebt haben, denn hier geht es nicht um Aussagen einer Lehre oder Theorie, sondern um konkrete eigene Erfahrungen, die dem religiös entfremdeten Durchschnittseuropäer oft fremd und unbegreiflich bleiben. Und weil diese Gabe die gesamte Schöpfung umfasst, fühlt man sich auch mehr mit Tieren, Pflanzen, Flüssen verbunden. Diese Haltung wurde früher als „Animismus“ bezeichnet und überlegen belächelt. Dieser Begriff ist in der seriösen Religionswissenschaft aber glücklicherweise schon lange eingemottet und in einem Zeitalter ökologischer Bewusstseinswerdung durch die realistischere Erkenntnis ersetzt worden, dass sich der Mensch in Naturreligionen eben nicht zum Herrn der Geschöpfe macht, sondern sich eher als Bruder unter Brüdern versteht.

In Naturreligionen kennt man keine radikale Trennung von Gott und Welt, keinen strengen Unterschied zwischen religiös und weltlich. Dort bildet Religion den ganzheitlichen Untergrund für das gesamte Leben, sie lässt sich nicht „ablösen“ und als eigene isolierte Rubrik betrachten. Es ist ja bezeichnend, dass im Heidentum, z.B. bei indianischen oder afrikanischen Kulturen, Arzt, Psychotherapeut und Priester oft noch immer eine Person sind, und das meistens sehr erfolgreich.

Aus all dem folgt natürlich auch, dass Naturreligionen nicht werben und keinerlei Mission betreiben, während die sogenannten „Weltreligionen“ alle Welt bekehren wollen. Naturreligionen halten sich auch in keiner Weise für „besser“ als andere Religionen, sondern sind zutiefst einem Weltbild verpflichtet, bei dem sich religiöse Unterschiede aus unterschiedlichen ethnischen Traditionen ergeben, die in jeder Hinsicht als natürlich, normal und vor allem gleichwertig akzeptiert werden. Begriffe wie „falscher“ oder „Irr-“ oder gar „Aberglaube“ kennen sie nicht, woraus sich eine Toleranz ergibt, die den Offenbarungsreligionen unbekannt ist, da diese sich notgedrungen zu der Behauptung erdreisten müssen, es gäbe nur eine einzige Wahrheit und Sichtweise, und sie hätten diese als Einzige erkannt. Daraus folgt vor allem auch, dass das Heidentum keine „Sekte“ ist. Dieser Begriff reizt Heiden sehr zum Lachen, weil es „Sekten“ ja per Definition nur in zentral normierten Religionen geben kann, die gerade dem Heidentum fremd sind. „Sekte“ bedeutet immer „Abspaltung (von einem Hauptstrom)“. Das Heidentum aber ist keine Abspaltung von irgendetwas, sondern selbst der Hauptstrom der eigenen Religion, und zwar einer mit jahrtausendealter Tradition. Schließlich kommt auch niemand auf die Idee, die Römer und Griechen der Antike als „Sekte“ zu bezeichnen, nur weil sie ihre eigene heidnische Religion ausübten. Das heutige Heidentum wirbt nicht um Anhänger, sondern lediglich um Verständnis und Toleranz.

Einer der größten Unterschiede zwischen konventionellem Christentum und Heidentum liegt in der Beziehung zwischen Menschen und Gottheiten. Die meisten Menschen lernen schon in ihrer Kindheit, dass es nur einen einzigen männlichen Gott gibt, der allmächtig und allwissend ist und dessen Willen sie sich unterwerfen müssen, um religiöse und weltliche Erfüllung zu finden. Diese Lehre ist über Jahrhunderte dazu benutzt worden, um die Unterwerfung der Frauen, soziale Unterschiede und die Unterdrückung individuellen Denkens zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu ist im Heidentum Unterwerfung das Letzte, was die Gottheiten fordern würden. Diese Gottheiten sprechen keine Gebote für die aus, die an sie glauben. Stattdessen bieten sie Herausforderungen, um Mut im Unglück und Stärke gegenüber Schwierigkeiten zu zeigen. Sie wollen, dass man selbständig als freier Mensch dasteht, um auf die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, die Gaben des Lebens und die Talente des eigenen Geistes zu nutzen, die eben diese Gottheiten einem verliehen haben, damit man den Lebensweg, den man gewählt hat, auch erfolgreich gestalten kann. Und daraus folgt nun eine der Einschränkungen, warum der alte heidnische Weg nicht für jeden Menschen geeignet ist: Menschen, die darauf angewiesen sind, dass andere oder irgendwelche „heiligen“ Schriften ihnen dauernd sagen, was sie zu tun haben, Menschen, die nicht willens sind, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, Menschen, die zu schwach sind, eine überzeugte Ethik und einen individuellen Charakter aus sich selbst heraus zu entwickeln, Menschen, die z.B. in Form der biblischen Zehn Gebote erst ein göttliches Verbotssystem benötigen, um Selbstverständlichkeiten zu begreifen, für die ist der alte heidnische Weg in der Tat die falsche Alternative.

Einer der nachhaltigsten Schäden des Ein-Gott-Glaubens liegt in der Zerstörung der natürlichen Beziehung zwischen Männern und Frauen. Der christliche Gott wurde stets als männlich angesehen, die weiblichen Aspekte wurden über lange Jahrhunderte vom Christentum verteufelt und unterdrückt. Das geschah so nachhaltig, dass es gesellschaftlich bis heute nachwirkt. In den alten heidnischen Gesellschaften wurde das Weibliche hoch geachtet. So zeigt uns die nordeuropäische heidnische Mythologie, dass das Weibliche der Schlüssel zu verborgener Weisheit sein kann, und die Göttinnen sind sehr starke und eigenständige Kräfte. Der Gott der Bibel schuf den Mann nach seinem Bild und danach aus Adams Rippe eine Frau. In der nordischen Mythologie dagegen wurden der erste Mann und die erste Frau gleichzeitig aus zwei Bäumen geschaffen, einer Esche und einer Ulme. Wenn wir die heidnischen Mysterien verstehen, können wir auch die Männer und Frauen wieder besser verstehen. Wir können unsere Unterschiede sehen und damit beginnen, eine Einheit zu bilden. Dabei ist es sehr wichtig, die Ansichten der patriarchalischen Religionen aufzugeben. Eine Gesellschaft, an der die Frauen nicht gleichberechtigt teilnehmen können, kann niemals eine wirkliche Gesellschaft sein.

Ein weiterer großer Unterschied besteht darin, dass das Heidentum den Begriff der „Sünde“ nicht kennt. Natürlich gibt es auch dort eine Ethik, die sehr genau zwischen gutem und schlechten, zwischen ehrenhaftem und unehrenhaftem Tun unterscheidet. Die Vorstellung einer „Erbsünde“ aber (also die Vorstellung, man werde automatisch mit einem schweren seelischen Makel geboren) würde im Heidentum nicht den geringsten Sinn ergeben, genauso wenig wie die Vorstellung, kein Mensch könne selbst einen Zustand des Heils oder der „Erlösung“ erreichen, sondern der könne nur durch Priester als Mittler Gottes garantiert werden. Einerseits wachen die heidnischen Gottheiten also nicht kleinlich über Sünde und Tugendhaftigkeit, andererseits aber bieten sie auch keine Möglichkeit an, moralische Verfehlungen durch ein Reuebekenntnis vor ihrem Angesicht zu „vergeben“. Sie haben allerdings sehr viel mehr Verständnis für allzu menschliche Fehler, Schwächen und Bedürfnisse, als es der Gott der Bibel hat. Aber in heidnischer Tradition ist jeder Mensch für seine Taten und deren Konsequenzen voll und ganz selbst verantwortlich.

Bei den teilweise bizarren Aussagen und vor allem inneren Widersprüchen der Offenbarungsreligionen sollte es sehr zum Nachdenken anregen, dass die heidnischen Naturreligionen, die alle Jahrtausende älter als z.B. das Christentum sind, überall auf der Welt und unabhängig voneinander zu weitgehend identischen Ergebnissen gekommen sind. Wenn wir uns einmal ein Treffen zwischen einem indianischen Medizinmann, einem keltischen Druiden, einem afrikanischen Heiler, einer germanischen Seherin und einem sibirischen Schamanen vorstellen, dürfen wir sicher sein, dass diese Personen nicht annähernd mit solchen Verständigungsproblemen zu kämpfen hätten, wie es z.B. zwischen einem katholischen Theologen, einem jüdischen Rabbiner und einem muslimischen Imam der Fall wäre. Denn die erste Gruppe teilt konkrete eigene und identische Erfahrungen, während im zweiten Fall über abstrakte Aussagen von Schriften diskutiert würde. Wenn man in religiösem Zusammenhang überhaupt den Begriff „objekiver Wahrheit“ verwenden darf, dürfte er im Fall der heidnischen Gruppe also zumindest sehr viel überzeugender ausfallen.

Nun ist all das in einem Fall bereits von breiten Kreisen der Öffentlichkeit begriffen worden, nämlich im Fall der indianischen Religionen. Indianische Spiritualität erfreut sich im Westen hoher Wertschätzung. Kein Mensch würde diese Spiritualität heute noch als „primitives Heidentum“ bezeichnen, wie es noch vor 50 Jahren der Fall war, sondern viele Menschen haben verstanden, dass diese Form der Spiritualität vieles von dem heilen kann, an dem die Entwurzelung unserer Zeit so oft krankt.

Aber die indianischen Religionen sind nicht unsere eigenen Wurzeln. Und wenn wir etwas von ihnen lernen können, dann das: unser eigenes spirituelle Erbe wiederzuentdecken. Leider wissen die meisten Menschen einfach nicht, dass auch hierzulande genau die religiösen Traditionen existieren, die wir an exotischen Kulturen so gerne bewundern. Die vorchristlichen Religionen des alten Europa sind von ähnlich komplexem Zuschnitt, von einem solchen Reichtum an altem Wissen und Verständnis für die menschliche Natur und Zusammenhänge mit dem Göttlichen, wie die hochstehendsten Religionen aus anderen Teilen der Welt auch.

Oft hört man den Vorwurf, heidnische Religionen seien heutzutage lediglich ein Schmelztiegel verschiedener Traditionen und Philosophien aus aller Welt. Das mag auf große Teile der sogenannten Esoterik-Szene zutreffen, wo in der Tat Elemente völlig verschiedener Herkunft wahllos vermischt werden. Auf das Heidentum trifft das nicht zu, denn Heiden legen im Allgemeinen großen Wert auf die Kenntnis historischer Quellen und bemühen sich, ihre Religion so authentisch wie möglich zu leben. Außerdem wird behauptet, dass die heutigen Heiden gar keine richtige Vorstellung von den alten Traditionen haben und sie deshalb nicht so praktizieren können, wie ihre Vorfahren es taten. Es stimmt zwar, dass eine Menge Wissen zerstört wurde, aber sehr viel Wissen ist glücklicherweise auch überliefert worden, vor allem bei den baltischen und germanischen Religionen. Düster sieht es allerdings im Fall der Kelten aus, vom originalen keltischen Heidentum wissen wir in der Tat sehr wenig. Sicher sind unsere Rituale modernisiert worden, aber das müssen sie auch sein, denn wir leben im Hier und Jetzt. Die heidnischen Traditionen aber sind immer noch lebendig. Sie sind kein verkrustetes Gebilde, das in der Vergangenheit verhaftet ist. Die Zeiten haben sich geändert und wir mit ihnen. Was sich aber nicht geändert hat, ist die menschliche Natur, und es ist heute noch genauso wichtig wie früher, uns und die geistigen Kräfte, die uns umgeben, zu verstehen.

Das alte Wissen ist nicht verschüttet. Es hat sich nicht nur in unzähligen Volksbräuchen erhalten, die bis heute sehr lebendig sind, in Märchen und Sagen, sondern in entlegenen Gegenden Skandinaviens und des Baltikums haben sich auch die alten Mythen und Techniken bis in moderne Zeit noch teilweise ungebrochen erhalten. Zudem hat die historische und religionswissenschaftliche Forschung hier in jahrzehntelanger stiller Arbeit sehr viel geleistet und viele der verloren geglaubten Details und Zusammenhänge ans Licht gebracht.

Kritik am Heidentum ist gerne erlaubt, sie macht genauso viel Sinn, wie Kritik an jeder anderen Religion auch. Sie sollte dann aber von Menschen kommen, die auch wissen, wovon sie reden. Kritik von Menschen, bei denen sich bei näherer Nachfrage dann herausstellt, dass sie kaum etwas Näheres über ihre eigene Religion wissen, geschweige denn über das Heidentum, bleibt in der Regel sehr unglaubwürdig. Wenn z.B. Christen nicht einmal wissen (oder nicht wissen wollen), welcher Religionszugehörigkeit Jesus war, ist die Grenze des Erträglichen wahrlich erreicht.

Besonders gewöhnungsbedürftig scheint vielen die Vorstellung des Glaubens an mehrere Gottheiten zu sein. Es ist aber ein grundlegender Irrtum, der bis heute von christlicher Seite besteht, die Wesensart der heidnischen Götter mit der ihres einzigen Gottes gleichzusetzen und darin einen unauflöslichen Gegensatz zu sehen. Schließlich haben auch Christen, Juden und Muslime genaue Entsprechungen zu den heidnischen Gottheiten: die große Zahl von Engeln, Erzengeln und anderen himmlischen Heerscharen mit genauer Abstufung ihrer Kompetenzen. Im Katholizismus kommt noch die gewichtige Schar der Schutzheiligen hinzu. Und deren Funktionen entspricht auch sehr viel mehr z.B. denen der heidnischen Götter. Die heidnischen Gottheiten sind nicht allmächtig oder allwissend, sie unterstehen einem höheren Prinzip, das allerdings nicht persönlich, sondern als ein ewiges Weltgesetz gedacht wird, dem alles unterworfen ist.

Was aber gerade von bibelgläubigen Christen dagegen eingewandt wird, lässt sich am leichtesten durch die Bibel selbst widerlegen. Aus zahlreichen Bibelstellen ergibt sich nämlich mit Sicherheit die Existenz zahlreicher Gottheiten. Man sollte mit Ps. 82 beginnen, wo schon am Beginn gesagt wird, dass Jahwe „inmitten der Versammlung der Götter“ steht. Dass die Israeliten auch weibliche Gottheiten (die „Himmelskönigin“) verehrten, geht ganz klar aus Jeremias 7, 18 und 44, 16 f. hervor. Gleichzeitig machen diese Stellen deutlich, dass es sich bei dieser Verehrung weiblicher Kräfte nicht um eine exotische Sonderform göttlicher Verehrung handelte. Im Buch der Richter 11,24 wird klar gesagt, dass andere Länder und Völker auch andere Götter haben, in I Sam. 26,9 klagt David darüber, dass er außerhalb seines Landes auch zu anderen Göttern beten müsse, in Jon. 1,3 will sich der Prophet Jonas dem Machtbereich Jahwes durch Flucht nach Tarsis entziehen. In 5 Mose 4,19 wird Jahwe „Gott der Götter“ genannt, in 5 Mose 4,19 und 29,25 ist anderen Völkern auch die Verehrung anderer Götter zugeteilt. Auch Jes.Sirach 17,14 nimmt an, dass über andere Völker auch andere Götter herrschen. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Gerade die Bibel geht also von der Existenz zahlreicher Gottheiten aus. Der dort verehrte Jahwe war lediglich der für die Gegend „zuständige“ Gott, und immer wieder wird gerade in der Bibel gesagt, dass er ausschließlich der Gott des Volkes Israel und keines anderen Volkes sei. Insofern stößt gerade biblisch orientierte christliche Kritik am Heidentum oft ins Leere. Sie ist in der Regel meistens ziemlich peinlich, weil sich dadurch regelmäßig offenbart, dass die meisten Christen das Alte Testament nicht einmal ansatzweise kennen.

Natürlich begegnet man oft der grundsätzlichen Frage, wozu eigentlich überhaupt noch Religion? Aber diese Frage klingt, als könne man Religion einfach abschaffen, und ist in etwa so sinnvoll, wie die Frage, warum man noch denken sollte. Religiöse Fragen stellen sich von selbst. Die marxistische Theorie, nach der das Phänomen Religion nur die Kompensation menschlichen Leids und Elends sei und Religion von selbst verschwinden würde, wenn man eben dieses Leid und Elend abschafft, hat sich nicht nur als historisch völlig falsch erwiesen, sondern ging vor allem von einem für das 19. Jahrhundert typischen völlig eurozentrischen Weltbild aus. Schließlich ist Religion ja kein Produkt der westlichen Industriegesellschaft, sondern gerade „glückliche“ Naturvölker hatten stets die weitentwickelsten und blühendsten Religionen. Natürlich kann man die Frage nach der eigenen Endlichkeit und nach dem Sinn des Lebens verdrängen, sich ablenken und versuchen, nur in der Gegenwart zu leben (eine ganze Unterhaltungsindustrie lebt davon), aber keinem Menschen wird es gelingen, die wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu verdrängen. Sie werden ihn einholen und am Ende mit umso größerer Wucht zurückkommen. Aus dem geradezu panischen Zwang, das eigene Glück in der begrenzten Lebenszeit selbst herstellen zu müssen, koste es was es wolle, und dieses Glück vor allem in materiellen und nicht in eigenen geistigen Fortschritten zu suchen, entsteht das meiste Unheil in dieser Welt. Wer aber nicht alle äußerlichen Glückserwartungen in den wenigen Jahren seiner Lebenszeit unterbringen muss, der lebt einfach gelassener – und vor allem glücklicher.

Natürlich muss man nicht dem Heidentum anhängen, um ein glückliches und erfülltes Leben führen zu können. Das gründet sich viel mehr auf die Fähigkeit, mit der Freiheit, die unsere Gesellschaft uns bietet, auch umgehen zu können, und Verantwortung für das eigene Tun zu zeigen. Das erfordert eine gewisse Stärke, die nicht alle Menschen in gleicher Weise besitzen. Gerade die heidnischen Religionen aber können unsere geistigen Möglichkeiten stärken, uns mehr Chancen bieten und unser Denken erweitern – nicht einengen. Denn der heidnische Glaube ist frei von jeglichen festgeschriebenen Dogmen, und Einzelne können ihre Veranlagungen frei entwickeln. Er lehrt uns vor allem auch, für unser eigenes Leben die Verantwortung zu übernehmen. Die Freiheit, die uns glücklicherweise auch in religiösen Fragen zu Gebote steht, sollten wir nutzen, um den Weg zu wählen, der unserem Leben die beste Selbstverwirklichung zuteil werden lässt.

Die heidnische Bewegung in heutiger Zeit ging von den skandinavischen Ländern aus, in denen die alten Traditionen ja am längsten überlebt hatten. Das heutige Heidentum ist nicht zentral organisiert. Es gibt keinerlei heidnische „Kirche“, es gibt keine zentrale Führung und erst recht keinen „Guru“ oder ähnliche Figuren, die irgendeine Lehre vorgeben, der man zu folgen hat. Solche Tendenzen sind dem Heidentum völlig fremd, wie aus dem bisher Gesagten hoffentlich deutlich genug hervorgehen sollte. Die Szene besteht aus zahlreichen kleinen Gruppen und Einzelpersonen in vielen Ländern, die zwar auf lokaler Ebene oftmals Kontakt haben und mehr oder weniger zusammenarbeiten, die im Allgemeinen aber höchst individuelle Meinungen haben. Genau dieser letzte Umstand steht einer zentralen Bewegung auch sehr entgegen, und sehr viele Heiden sind genau darüber auch sehr froh. Auch der Eldaring versucht diesen Zustand nicht zu ändern. Der Verein bemüht sich lediglich darum, Interessierten durch Mitgliedschaft mit Informationen, Kontakten usw. weiterhelfen zu können, woran bei vielen Menschen tatsächlich großes Interesse besteht. Und wenn es mit diesen Zeilen gelingen würde, auch in der breiten Öffentlichkeit ein paar der dümmsten Vorurteile abbauen zu können, wäre das einer der schönsten Erfolge.

Erschienen 2003 in Herdfeuer 1

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