von Nelly Dirks
(Ausstellung im Archäologischen Museum Frankfurt – Februar bis Juni 2017)
Gedanken über einen Glücksbringer
(mit Nachzeichnung der Böcke von Tissø)
Ein kleiner Fund aus dem Grabungsschatz am dänischen See Tissø lässt mich gedanklich nicht mehr los. Es geht um Thors Böcke. An dem Ritualort hat vor ca. 1.300 Jahren jemand einen kleinen bronzenen Glücksbringer geopfert. Es ist eine Fibel.

Die kleine Fibel des 8. Jahrhunderts aus Tissø zeigt zwei männliche Huftiere im Profil. Wegen der gewundenen „Hörner“ und des kurzen Stummelschwanzes hat man sie für die beiden Böcke Tanngrísnir und Tanngnjóstr gehalten, die Thors Wagen zogen.
Zitat von der Ausstellungswebseite des Archäologischen Museums
Vielleicht wurden die gefundenen Fibeln und Anhänger speziell für die Opferung hergestellt. Für eine Gewandnadel wirkt dieses Exemplar doch sehr filigran und zerbrechlich. Die Basis hat eine Länge von 6 cm. Für eine Mantelschließe eignet sie sich meiner Meinung nicht. Wenn überhaupt hat diese Fibel den Hemd-Ausschnitt am Hals verschlossen. Der halbe Hausrat, wie es bei den Frauen im Frühmittelalter üblich war, kann an dieser Fibel nicht befestigt gewesen sein. Dafür ist sie zu zart. Davon abgesehen sind keine Abnutzungsspuren zu erkennen.
Auch die anderen Funde scheinen für Schmuck liebende Nordleute etwas klein geraten zu sein. Ich vermute, von seinen wertvollen Lieblingsstücken trennt sich niemand gern. Aber für eine germanische Vertragsbindung mit den Göttern muss ein passendes und vor allem den Hohen schmeichelndes Opfer dargebracht werden. Abbilder von Göttinnen, Göttern, Walküren und „heiligen“ Tieren sind daher vermutlich ein gern gewähltes Pfand. Mir kommt dabei ein lukrativer Devotionalienhandel oder eine Sakramentalien-Herstellung an so einem Ort in den Sinn. Wer weiß schon, wer diese Ideen als erstes hatte. Geschäftstüchtige Händler und Handwerker waren die alten „Wikinger“ allemal. Und wenn der Herrscher dieses Landkreises und Eigentümer des Ritualhauses seinen Anteil bekam, vielleicht sogar selber herstellen und verkaufen ließ, waren die Einnahmen gesichert. Zu diesem Ort sind die Menschen von weither gereist.
Zurück zu den beiden Huftieren. Welche Tiere ziehen Thors Wagen? Ziegen? Schafe? Die Bilder, die im weltweiten Netz zu finden sind, alle neuzeitlich und kraftstrotzend, gab es vor 1.300 Jahren noch nicht. Auf wikingerzeitlichen Steinen habe ich noch keinen Thor mit Wagen gesehen. Wahrscheinlich habe ich nicht lange genug gesucht. Und auch die EDDA ist für mich zu neu um sie als Quelle allen Wissens zu benutzen. In 500 Jahren – zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert – kann so viel passieren.
Doch diese beiden Viecher sind da: archäologisch bewertet und ins 8. Jahrhundert datiert; nicht in einem Grab, sondern an einem Ritualplatz, in der Nähe von zwei möglichen Pfahl-Göttern. (Es wurden Verfärbungen in der Erde gefunden, die nicht als vergangene Gebäudestützen, sondern als Götter-Statuen gedeutet werden – in Anlehnung an die Aufzeichnungen von Adam von Bremen.)
Aber sind das wirklich Ziegen? Für mich sind diese Kopfaufsätze keine gekrümmten Ziegenhörner, sondern mit zwei entgegengesetzt stehenden Streben eindeutig Geweihe. Jeweils ein Geweihende zeigt nach vorn auf das gegenüber stehende Tier und eins macht eine elegante, verletzungsfreie Biegung nach hinten – ein stilisiertes Hirschgeweih. Wenn es mehr Enden hätte und natürlicher dargestellt wäre, würden die nach hinten stehenden Spitzen wahrscheinlich nicht mehr aufzufinden gewesen sein, und falls die Fibel doch am Körper getragen wurde, hätte die Trägerin oder der Träger keinen Spaß damit gehabt.
In dem Buch zur Ausstellung wird sogar vermutet, es könnte sich um Pferdchen handeln, weil auch Pferde-Fibeln gefunden worden sind. Doch denen sieht man wirklich an, dass es Pferde sein sollen. Der Hals ist gebogen, der Schweif lang, manche haben sogar Zaumzeug und keines der Pferdchen hat Kopfschmuck oder ein anderes Pferd gegenüber. Also eindeutig: Diese Fibel stellt keine Pferde dar.
Ich will eigentlich nicht darüber nachdenken, ob Thor einen Wagen hatte, der von Böcken oder Hirschen oder Pferden gezogen worden ist. Mich beschäftigt vielmehr die Frage: Ist der Donnergott überall im heidnischen Nordeuropa gleich? Ist Donar auch mit einem Wagen gefahren? Wie ist die Vorstellung in den Alpen? Wir kennen nur die EDDA. Also fährt Thor mit Ziegen. Aber wirklich überall? Und warum Ziegen? Hängt das mit dem schwedischen Brauch zusammen, einen Julbock in den Rauhnächten aufzustellen? Also denke ich doch darüber nach.
Die Fauna des hochmittelalterlichen Islands ist mir nicht vertraut. Ich vermute, Land-Säugetiere, die nicht von Menschen dort hingebracht worden sind, gab es nicht. Also muss Thor eigentlich Zugtiere haben, die in Norwegen vorhanden sind bzw. zur EDDA-Zeit verwendet wurden.
Ach ja, die beiden Huftiere, über die ich nachdenke, sind in Dänemark gefunden worden. Also: Welche Hirsche können Thor in Dänemark zugeordnet werden? Rothirsche und Rehe. Möglicherweise sind auch schwedische, norwegische und finnische Hirsche bekannt gewesen. Dann kämen Elche und Rentiere dazu. Ich will jetzt keinen Haken schlagen zu Rentierschlitten und Weihnachtsmann – oder doch?
Aber diese spezielle Fibel zeigt für mich eindeutig zwei kämpfende, männliche Rentiere. Schließlich können die Besucher und Handwerker der Stadt mit Ritualhaus am See Tissø auch aus Norwegen oder Schweden oder Finnland gekommen sein. Bleiben also die Fragen: Sind das göttliche Tiere? Sind das Zugtiere? Wessen Zugtiere?
Für mich ist es schwierig, über Vorstellungen nachzudenken, wenn ich den dazugehörigen Ort nicht kenne. Nehmen wir beispielsweise die Fortbewegungsart Odins. Er reitet auf Pferden. Macht er das überall? Benutzt er vielleicht zur Jagd in den Rauhnächten Rentiere? In Finnlands Norden würde er. Da gibt es nichts anderes. Oh verflixt, da ist wieder der Weihnachtsmann…
Thor hat Böcke. Die meisten denken an Ziegenböcke. Er lenkt einen Kampfwagen. Er futtert seine Ziegen auch auf. Er weiß, dass sie wieder fleischlich werden – meistens. Doch tut er das überall? Wäre ein Rentierwagen im Norden Norwegens nicht sinnvoller? Bei männlichen Rehen wird übrigens auch von Böcken gesprochen – also kleine Hirschart gleich Bock, Ziege gleich Bock. Hat Thor einen kleinen Wagen? Warum?
Also gut, mit Tier und Größe komme ich nicht weiter. Götter, die mit Kampf und Krach zu tun haben, müssten in meiner Vorstellung auch riesig und gewaltig sein. Doch scheint es weder bei Ziegen noch bei Rentieren um Größe und Kraft zu gehen. Es wird wohl nur um das Geräusch oder das Symbol aufeinanderprallender Geweihe bzw. Hörner gehen. Ist die Fibel mit zwei geweihtragenden Huftieren ausreichend um ein Attribut für einen bestimmten Gott zu sein?
Es geht vermutlich um Donner. Gewitter mit Blitzen und Donner sind die Befruchter der Erde. Das Wachstum der Pflanzen wird nach Gewittern, besonders mit anschließenden Regengüssen, beschleunigt. Kein Wunder, dass Donnergrollen mit himmlischem Segen und Fruchtbarkeit verbunden wurde. Entsprechend sehen wir in Thor bzw. Donar bzw. dem Donnerer den ursprünglichen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott.
Die Tiere, die den Krach, besser das Geräusch des fernen Donnergrollens machen, sind männliche Kopfschmuckträger unterschiedlicher Arten. Es können Ziegen, Schafe und Rinder bäuerlicher Haushalte sein, Rentiere in der Nähe des nördlichen Polarkreises, Steinböcke der alpinen Hochgebirge, Moschusochsen in Grönland, Hirsche, Wisente und Widder in ganz Europa. Wilde Horn- oder Geweihträger gibt (oder gab) es fast überall auf der Erde. Vielen von ihnen ist die Stirn-gegen-Stirn-Methode zum Einläuten der Fortpflanzungszeit ein Zwang. Wer ist der Stärkste, wer darf die Weibchen beglücken, wer muss den Platz räumen? Überlebt der Verlierer, versucht er es im nächsten Jahr noch einmal.
Wie stellt sich nun ein Landwirt oder Viehzüchter die Verbindung zwischen Donnergrollen und Fruchtbarkeit vor? Müssen wir eventuell zwischen Landwirten und Viehzüchtern unterscheiden? Der Landwirt kennt den Zusammenhang zwischen Gewitter und gutem Wachstum. Der Viehzüchter weiß, daß sich prügelnde Böcke gute Zuchterfolge bringen. Also ist die Schlussfolgerung von beiden, wenn es donnert wird alles gut?
Möglich wäre es. Auf jeden Fall will ich mir nicht ausmalen, wie die damalige Vorstellung der Befruchtung zwischen Donnergott und Erdgöttin ausgesehen haben mag. Wissenschaftlich belegt ist tatsächlich eine Art Kommunikation zwischen der Erde und der Atmosphäre, die durch wechselseitige Blitze – also in beide Richtungen – erfolgt. Ich glaube fest daran, dass dadurch die Fruchtbarkeit der Natur gefördert und unser Leben beschützt wird. Natürlich sollten sich menschliche Wesen währenddessen unter einem Dach mit Blitzableiter befinden. Und Eichenbäume meiden! Diese scheinen die bevorzugte Zwischen-Ablage für Gesprächsnotizen zu sein. Doch wenn es vorbei ist, wird alles auf wunderbare Weise klarer, reiner und frischer. Die Nebenkatastrophen wie Überflutungen und Erdrutsche sind übrigens von Menschen gemacht – also keine Absicht der Erdgöttin und des Donnergottes.
Für die meisten Stadtbewohner ist der echte Bezug zur Landwirtschaft jedoch eher diffus. Geschichten um Feinde und Kriege sind interessanter als die über den Kampf um die Ernte oder den Viehbestand. Der nächste Supermarkt hat immer Brot und Fleisch.
Wir wollen Spiele und brauchen Helden. Also ist es Kult, dass Thor einen Kriegswagen fährt und weibliche und männliche Riesen mit einem Hammer erschlägt. Klingt nach roher Gewalt und viel Spaß. Aus Sicht der Naturgewalten entspricht das dem Text „… und macht euch die Erde untertan …“. Doch müssen wir wirklich ausschließlich mit diesen isländischen Macho-Phantasien leben? Wer will eine gebändigte Erde? Wer will die Kinder der Erde in Ketten und als Leichen? Haben wir schon Ragnarök? Nur weil meine Vorfahren die Naturgewalten als bösartige Riesen gesehen haben, muß ich das nicht auch tun. Ich finde eine Vorstellung angenehmer, in der ein Landwirt weiß, dass ein Gewitter gut für die Saat ist, aber seinem Kind erklärt, dass es vor dem Donner keine Angst haben muss, weil nur unser Wettergott gerade einen reinigenden Ehekrach hat. Jeder streitet mal.
Ich will keine ununterbrochenen Kriegsgeschichten hören über einen Gott, der eigentlich für das Aufgehen der Saat sorgt. Die Riesen sind immer noch lebendig. Sie sind Teil dieser Welt und bewegen sie. Ich will nicht, dass sie ständig erschlagen werden. In meiner Vorstellung erschlägt Donar keine Riesen. Möglicherweise kämpft er mit ihnen – sportlich – zum Spaß. Möglich ist auch ein Wettstreit um die stärkste Puste oder den am weitesten gespuckten Kirschkern. Blöd für uns Menschen, wenn sich der Kirschkern als Meteorit entpuppt, der beim Eintritt in Donars Reich nicht verglüht. Ein Upps-Moment in höheren Dimensionen. Nennen wir es Schicksal und hoffen auf Veränderung und nicht Untergang.
Geschichten über Donar gibt es scheinbar keine. Dazu waren erst die Römer und anschließend die Kirche vor allem entlang des Rheins zu gründlich. Seit Grimm und Konsorten wird Donar mit Thor gleichgesetzt, und die Geschichten über Thor werden auf Donar übertragen. Doch ist der isländische Thor wirklich der Gleiche wie der kontinental-germanische Donar? Auf Island sind die Erdkräfte sichtbar und unablässig am hochkochen. Aktive Vulkane, Geysire, Erdspalten, Gletscher, Wetterphänomene, skurrile Felsgebilde, sich ständig verändernde Gesteinsformationen, alles das habe ich nicht vor meiner Haustür. Auch eine Tagesreise zu Fuß entfernt werde ich nicht mit solchen „Gewaltausbrüchen“ konfrontiert. In den hiesigen Hügeln leben Hirsche und Rehe. Gewitter sind selten und schnell vorüber. Donar ist hier ein sanfter, fröhlicher, beinahe etwas behäbiger Gott, wohlgenährt und über Weinbergen zu Hause.
In den Alpen könnte ich mir einen anderen Donnergott vorstellen. Hier sind es Steinböcke, die an seine Macht erinnern. Ein kleines Gewitter wird schnell zu einem tosenden Alptraum. Doch auch hier haben Riesinnen und Riesen ihren Platz und wollen nicht um ihr Leben fürchten. Auch hier wollen die Menschen einen Beschützer, der nicht zerstört. Und wenn eine Lawine runtergeht, sind dann die Riesen schuld? Wohl eher wieder der Mensch selbst. Brauchen wir noch mehr Skipisten?
Doch wieder zurück zu der Fibel mit den beiden kleinen Rentieren aus Dänemark. Sie stehen sich gegenüber. Sie sind nicht nebeneinander eingespannt in irgendein Gefährt. Es sind freilebende, männliche, brunftige „Böcke“, die in der Blüte ihrer Kraft für Nachwuchs sorgen wollen. Keine menschliche Figur in ihrer Nähe hat Besitzansprüche oder wirkt in irgendeiner Weise auf die beiden ein. Es geht also nur um Biologie, Behauptung und die ausgewogene Eleganz eines Schauspiels. Diese Brosche feiert die Schönheit und Kraft der Natur – und die männliche Fruchtbarkeit.
Wenn eine Frau diese Fibel an einem Ritualplatz niedergelegt hat, wünschte sie sich vielleicht einen Partner, der um oder für sie kämpft. Wenn ein Mann diese Fibel geopfert hat, könnte er sich Kraft gewünscht haben für den Kampf gegen einen Rivalen. Oder er wünschte sich die Potenz seiner Jugend zurück, als er noch ein buhlender Heißsporn war, der sich mit jedem „Platzhirschen“ angelegt hat. Oder ganz schlicht: Ein Rentierherdenbesitzer wollte Schutz und viele Kälber für seine Herde erbitten.
In Skandinavien und dem Baltikum war der Julbock der Geschenkebringer vor dem Weihnachtsmann. In den Jahrhunderten bevor es Geschenke in den Rauhnächten gab, war der freche Ziegenbock allerdings ein dämonischer Wald- und Berggeist, der mit Opfergaben besänftigt werden musste, weil er sonst in den Julnächten Unheil ins Dorf gebracht hätte. Doch mit jeder Menge Futter und einem symbolischen Tötungsakt des Ziegenbocks ist das alte Jahr zu Ende gegangen, und mit einem magischen Lied oder Zauberspruch ist das Huftier wieder neu zum Leben erweckt worden. So oder so ähnlich steht es im Netz. Die klassische Opferung und Wiederauferstehung zur Wintersonnenwende.
Wenn ich das richtig gelesen habe, wurde Thor selbst vor Urzeiten als Ziegenbock gesehen. Also fuhr Thor nicht mit einem Wagen, der von Böcken gezogen wurde durch die Wolken. Er selbst war der vor Fruchtbarkeit strotzende Donnerschädel! Christlich gesehen der gehörnte Teufel. Was mich wieder daran erinnert, dass das russische Wort für Gott Bog ist. Klinkt Bog nicht ähnlich wie Bock? Ihr fragt, wieso russisch? Die Rus-Wikinger haben jenem Land den Namen gegeben, mit Sicherheit auch Teile ihrer Sprache. Und so lebt Thor als Bog in der russischen Sprache fort. Ich finde es göttlich! Übrigens fährt der russische „Weihnachtsmann“ einen Pferdeschlitten. Damit ist dann wohl eher Odin der Besucher zur Wintersonnenwende. Das Wort Odin gibt es auch im Russischen. Übersetzt heißt es „eins“ oder „alleine“. Allerdings reist Odin als Väterchen Frost in Begleitung seiner Schneebringerin und ist somit weder der Einzige noch der All-Einige. Die Russen haben, so scheint es mir, Odin und Frau Holle verbunden. Aber das ist Neuzeit und nicht meine geographische Verortung.
Ob Pan in Griechenland, Thor/Donar in Germanien oder Cernunnos bei den Kelten – die männliche Potenz hat in Europa Geweih oder Hörner auf dem Kopf. Daher verstehe ich das Bild des „gehörnten Ehemannes“ nicht. Wieso setzt die Frau dem Ehemann Hörner auf wenn sie doch den Nebenbuhler zum Bock macht? Und wieso darf man den Bock nicht zum Gärtner machen? Er steht doch für Fruchtbarkeit!? Ach nein, ein Gedankenfehler! Der Bock ist ja der Vielfraß, der mit Leckerli vom Garten abgelenkt werden muss. Und der Hahnrei (gehörnter Ehemann bzw. kastrierter Gockel) hat mehr mit dem Pferdesport als mit einem Geweihträger zu tun. Die Sporen wurden dem kastrierten Hahn abgeschnitten und in den Kamm gesteckt. Sie wuchsen an und zeigten so den Unterschied zu einem nicht kastrierten Gockel.
Mir scheint bei Fruchtbarkeitssymbolen und göttlichen Zuordnungen geht es gar nicht um die Landwirtschaft. Es geht und ging schon immer nur um Sex. Und zwar nicht den Blümchen-und-Bienen-Kram sondern um den animalischen und lustvollen Geschlechtsakt. Natürlich hat man geglaubt, je besser es in der zwischentierischen und zwischenmenschlichen Beziehung klappt, umso besser wächst auch die Saat. Die Walpurgisnacht ist so ein Brauchtumsecho. Doch die Kirche hat im Verlauf des Mittelalters den lustvollen Bräuchen den Kampf angesagt. Zum Schluss wurde aus dem Bock der Teufel und aus der Erdgöttin die Hexe. Die Bilder, auf denen Hexen auf Ziegenböcken zum Blocksberg reiten und sich in der Nacht zum 1. Mai mit dem Gehörnten paaren, sind allgemein bekannt. Mich verwundert, dass der Stier (Jupiter/Zeus) der Göttin Europa nicht auch zum animalischen Antihelden geworden ist. Doch die griechischen Klassiker waren der Kirche wohl zu „heilig“. Schließlich war ein Rind sogar bei der Geburt Jesu zugegen. Ein Ziegenbock leider nicht.
Schon vor der Kirche haben die Adeligen und Herren das gemeine Volk erziehen und leiten wollen. Das unkontrollierbare Animalische sollte aus den Köpfen verschwinden. Die „Riesenkräfte“ der Menschen sollten gezügelt und gebremst werden. Sogar der Bock wurde zu einem Gott gemacht, der den Naturkräften Einhalt gebieten sollte. Und so wurde aus dem Tier ein Mann, der das Tier am Zügel hält. Ihm wurde eine Vaterfigur übergeordnet, der ihn wiederum in Schach halten sollte. Odin war genau der Richtige dafür: kopfgesteuert, klug bzw. verschlagen, gelehrt und spirituell. Der richtige Gott für die sich erhebenden Feudalherren. Der Bauer mit seiner landwirtschaftlichen Denke musste begreifen, dass ein höherer Herr, der über ihn entscheidet, eben der Klügere und Bessere ist. So ungefähr stelle ich mir die Entwicklung zwischen der Antike und den Anfängen der Christianisierung vor. Immerhin geht es dabei um mehr als 1.000 Jahre. Eine lange Zeit, um sich Geschichten für die Edda auszudenken und zurechtzubiegen. An den Höfen der Herren waren die Wettstreite um die besten Geschichten und Lieder berühmt. Von Konstantinopel bis zu den Nordleuten gab es nicht nur wirtschaftliche Verbindungen. Und im geschützten Tross der Höflinge waren oft irische oder römische Missionare dabei.
Ob am See Tissø das Ritualhaus schon christlich belastet war oder noch rein heidnisch, wer weiß das schon. Die Götterstatuen sind vergangen und ob das Geschreibsel von Adam von Bremen über einen anderen Ort hier wirklich anzuwenden ist, bleibt fraglich. Ich werde in den möglichen Pfahlgöttern auf keinen Fall, so wie es in dem Museumsbuch steht, Odin und Thor sehen. Ich werde mir immer eine Göttin und einen Gott in so einem Haus vorstellen. Welche Götter auch immer, sie wurden von einfachen Leuten verehrt. Den Reichtum aus so einem Ritualplatz schöpften allerdings die Herren ab und die waren zu dieser Zeit meistens schon christianisiert. Sie nutzten die starke religiöse Verbundenheit der Bevölkerung zu ihren Göttern genauso wie es die Kirchen noch heute tun. Allerdings war es damals am See Tissø scheinbar üblich den göttlichen Segen sowohl durch echte als auch durch symbolische Tieropfer zu erbitten.
Dass die vier Hirsche, die den Lebensbaum Yggdrasil laut EDDA anknabbern, mit dieser Fibel gemeint sind, glaube ich nicht. Die Fibel zeigt zwei kämpfende und keine am Baum äsenden Hirsche. Die Vorstellung des EDDA-Lebensbaums wird sich auch erst über Jahrhundert und durch Beeinflussung weitgereister und gebildeter Menschen entwickelt haben.
Ich kann mit Gewissheit nur sagen, dass am See Tissø eine Fibel aus dem 8. Jahrhundert in Form zweier kleiner Hirsche gefunden wurde. Meine dazu gemachten gedanklichen Auswüchse sollen die Komplexität von Bildern und ihren Interpretationen veranschaulichen. Ihr müsst mir nicht zustimmen. Aber denkt Euch Eure eigenen Geschichten und erzählt sie!