Zieh mit den Wölfen Krieger in der Vergangenheit – und Gegenwart?

Eine historische wie auch persönliche Betrachtung eines Begriffes

von Alex Jahnke

Einleitung

„Der Krieger“ – ein Begriff, der in Asatrukreisen häufig diskutiert wird und dem kaum jemand neutral gegenübersteht. Die Haltung reicht dabei von romantisierten ritterlichen Vorstellungen bis hin zu absoluter Ablehnung als brutalem Relikt der Vergangenheit. Dieser Artikel versucht, als Bindeglied zwischen den Meinungen zu fungieren und aufzuzeigen, warum das Kriegerbild heute nicht überholt ist, als auch, warum eine romantisierte Vorstellung aufgrund des fehlenden sozialen Hintergrundes falsch ist. Dabei werden die grundlegenden Riten und Rituale der Krieger durch die Zeit aufgezeigt und ihre bis heute andauernde Existenz dargelegt.

Der Krieger-Archetyp – wie auch das Kriegertum selbst – ist aus Asatru nicht wegzudenken und deshalb allgegenwärtig, da die Religion fest in einer kriegerischen Stammes-Gesellschaft verwurzelt ist. Fritz Steinbock schreibt dazu:

„Das Krieger-Ideal ist so präsent, weil unsere Quellen aus Krieger-Kreisen stammen. Daher erscheint z.B. Odin mehr als Gott der Krieger und seltener als Gott der Dichter, Seher und Magier, obwohl man das in der Edda sehr deutlich sehen kann. Vieles Kriegerische ist historisch bedingt und nicht auf heute zu übertragen. Ein wesenhafter Bestandteil von Asatru ist aber die Grundhaltung des Kriegers: das Wissen, in einer Welt zu leben, in der man um seinen Platz sehr oft kämpfen muss – und daß das kein Skandal, sondern nun mal der Lauf der Welt ist, das Schicksal des Menschen, das man akzeptieren und in Würde erfüllen muss. Ehre ist eine Krieger-Tugend, auch Treue: die Krieger müssen sich aufeinander verlassen können. Mut natürlich auch – die Neun Tugenden haben viel mit dem früheren Kriegertum zu tun. Es geht dabei um den ‚inneren Krieger‘, den Asatru fördert. Das hat mit Ehrenhaftigkeit zu tun, durchaus auch mit Ritterlichkeit. Die Ritter-Ideale sind ja nur oberflächlich christianisiert, ihre Wurzeln sind heidnisch.“[1]

Wie tief diese Verwurzelung ist, zeigte der französische Mythologie-Forscher Georges Dumézil (1898-1986) Anfang des 20. Jahrhunderts. Dumézil hat eine Analyse der indoeuropäischen Mythologie entwickelt, die die gesamte Kultur untersucht. Mythen sind für Dumézil nicht nur literarische Werke der Skalden und Barden, sondern sind konkrete Beschreibungen sozialer Lebensgewohnheiten und dienen als Regelwerk der Gesellschaft:

„[Mythen stellen] … keine beliebigen dramatischen oder lyrischen Erfindungen ohne Bezug zur politischen und sozialen Organisation, zum Ritual, zum Gesetz oder zum Brauchtum dar; im Gegenteil, ihre Rolle besteht gerade in der Rechtfertigung des Ganzen, in der Bebilderung der großen Ideen, die das Ganze organisieren und stützen.“[2]

Aus diesem Material entwickelte er drei gesellschaftliche Gruppen: Bauer, Krieger und Priester, die parallel zu der Göttergesellschaft strukturiert waren und aus drei menschlichen Grundbedürfnissen entstanden waren: „die Verwaltung des Heiligen (oder heute seiner ideologischen Surrogate), die Verteidigung und die Nahrung.“[3]

Diese Struktur hatte die Indoeuropäer soweit geprägt, dass sie die Theologie, Mythologie sowie die soziale Organisation des Alltags beeinflussten.

Dumézil entwickelte daraus die These, dass es sich dabei um die Manifestation von drei Funktionen handelt – Souveränität, Verteidigung, Fruchtbarkeit. Zu einem Zeitpunkt in der fernen Vergangenheit existierte eine angenommene vor-indoeuropäische Struktur, die sich zwar durch Völkerwanderungen ausbreitete, aber von lokalen Kulturen überlagert und dadurch in den neuen Kulturen verschieden transformiert wurde.

Der germanische Götterhimmel lässt sich laut Dumézil in drei Gruppen einordnen. Die skandinavischen Quellen aus Island unterteilen den Pantheon in die uns bekannten zwei Götterfamilien: Asen (Krieger/Priester) und Wanen (Bauern). Odin ist unschwer als Vertreter der ersten beiden Funktionen zu erkennen. Er ist der mächtige Magier, der Göttervater. Er vertritt die intellektuelle Klasse, wenn auch nicht ganz so „rein“ wie seine Entsprechungen in der indischen Mythologie. Odin ist nicht ausschließlich der Priestergott, denn er führt auch ekstatisch die wilde Jagd an und wird als Krieger gegen seine letzten Feinde antreten.

Thor, der Donnerer, der mit seinem Hammer die Riesen bekämpft und dem der „Furor“ nicht unbekannt ist, ist ein idealer Vertreter der Kriegergruppe. Die Wanen vertreten Reichtum, Fruchtbarkeit und Landwirtschaft und damit die große Kategorie der dritten Funktion.

Wollen wir Asatru als authentische Religion wieder- und neuerleben, muss auch diese soziale Grundlage ein Thema sein. Im Folgenden werden wir uns nur auf den Aspekt des Kriegers konzentrieren und sein Verhalten näher untersuchen.

Aspekte des Kriegertums

„In diesem Kampfe muss der Schwächere am Boden bleiben, während der Sieger, die Waffe fester in der Faust, über den Erschlagenen hinwegtritt, tiefer ins Leben, tiefer in den Kampf. So ist der Aufschrei, den solcher Anprall mit dem des Feindes vermischt, ein Schrei, der sich Herzen entringt, vor denen die Grenzen der Ewigkeit schimmern. Es ist ein Schrei, im Flusse der Kultur längst vergessen, ein Schrei aus Erkennen, Grauen und Blutdurst.“[4]

Der größte Helfer des Kriegers ist die Angst, andererseits aber auch sein schlimmster Gegner. Das Ritual vor einem Kampf ist auch in der Tierwelt deutlich länger als die eigentliche körperliche Auseinandersetzung. Es wird gedroht, imponiert und Scheinattacken werden geführt. Man möchte den Gegner bereits vor dem körperlichen Konflikt in die Flucht schlagen. Dieses Verhalten findet sich bei Tieren, aber auch bei steinzeitlichen menschlichen Kulturen. Der Hinterhalt oder schnelle Überfall ist die häufigste Form des Konfliktes, offene Kämpfe oder Schlachten hingegen beginnen mit einem festgelegten Ritual unter den Kriegern beider Parteien. Drohen, prahlen, beschimpfen, obszöne Gesten, hin und wieder ein Pfeil, wobei beide Parteien im großen Abstand zueinander stehen. Einzelne Krieger springen aus der Reihe, um ihren besonderen Mut zu beweisen, und ziehen sich dann wieder zurück. Als extrem ritualisierte Form ist dieses Verhalten bei den Lakota und anderen Plainsstämmen zu finden. Man prescht vor und berührt den Gegner nur mit der eigens dafür vorgesehen Coup-Stange. Einen Coup zu schlagen, wird als mutigste Handlung überhaupt angesehen. Bei Schlachten kann dieses Geplänkel Tage dauern und Tote sind dabei selten.

Gerade in lebensgefährlichen Situationen vertraut der Mensch auf höhere Mächte, wünscht sich deren Beistand und Hilfe. Schon aus frühester Vorzeit (vor 30.000 Jahren) gibt es Funde, die beweisen, dass sich Krieger mittels schamanischer Techniken in mächtigere, gefährlichere Wesen zu verwandeln wünschten. Dazu maskierten sie sich mit Fellen oder Masken und wurden zu Tieren. Diesen Brauch findet man in fast allen Kulturen: die Berserker – die Bärenhäuter –, die Ulfhednar, die Jaguarkrieger der Azteken, der Schakal bei den Ägyptern, Herakles trug ein Löwenfell, die Gründervater Roms wurden von Wölfen gesäugt, und natürlich ist Odin der Herr der Wölfe, der letztendlich aber auch seine eigene Nemesis ist.

Der Wolf ist das am meisten verbreitete Totem- und Krafttier der Krieger in allen Kulturen. Wolfs- und/oder Hundemythen findet man auf der ganzen Welt. Ist es kein Wolf oder Hund, wählen die Krieger interessanterweise eher listige Räuber als Krafttier: Coyote, Schakal, Leopard, Raubvögel. Schnelligkeit des Pferdes oder Kraft des Büffels wird von den Kriegerbünden nur selten gewählt. Entstanden ist der Wolfsmythos unter den Nomaden Zentralasiens, hier war der Wolf ein starkes und kluges Raubtier, ein Vorbild für Krieger und Jäger. Viele mongolische und türkische Stämme nannten sich „Wölfe“ und führten ihre Abstammung auf die tierischen Vorfahren zurück. In späteren, sesshafteren Kulturen wandelte sich das Bild des Wolfes. Er war eine Gefahr für die Herden der Bauern und wurde so zum Sinnbild des Bösen. Wer zum Wolf wurde, war ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener. Beide Sinnbilder haben sich vermischt und geben das bis heute vorherrschende Bild über Wölfe vor: der böse Wolf, der die Zicklein frisst und das große Vorbild, das sich in vielen Vornamen mit Wolfsbedeutung wieder findet (Wolfgang, Ulf, Markolf usw.). Bezeichnend ist auch, dass sich die Bezeichnung „Dogs of War“ (Hunde des Krieges) bis heute in der englischen Sprache für Söldner gehalten hat.

Wechselte der germanische Mann vom Kindes- ins Mannesalter, so wurden auf der Jünglingsweihe Wolfsfelle und Wolfsmasken getragen. Die Sagas erzählen uns, dass die besten Krieger des Königs Harald die Ulfhednar (Wolfshemdtragenden) waren. Der Mythos des gewalttätigen Wolfsmenschen, des Wer(e)wolfs, ist in fast allen Kulturen zu finden. Für die Opfer eines Raubzuges mussten die wilden Krieger in Wolfsmasken wie Ungeheuer aus Albträumen erscheinen und so die Skalden zu ihren Geschichten inspirieren.

Neben dem Anlegen von Fellen oder Masken wurden auch Tätowierungen oder Kriegsbemalungen zur magischen Verwandlung genutzt. Von diesen furchterregenden Bemalungen oder auch von wilder Haarpracht (bei den Kelten) berichten die römischen Autoren voller Ehrfurcht: „Alle Britannier färbten sich mit Waid, der eine blaue Färbung bewirkt … und hierdurch sind sie im Kampf so schrecklich anzusehen“, schreibt Caesar. Dass diese Bemalung magisch war, zeigt auch das deutsche Wort „zaubern“, das von „röteln“ abgeleitet wird. Bei den kultivierten Griechen und Römern waren solche Sitten verachtet; später wurden sie dann von der christlichen Kirche als heidnisch verboten, hielten sich aber unter den keltischen Stämmen auf den britischen Inseln bis ins Mittelalter.

Aber auch in der christlichen Zeit war der Schrecken des Gegners eine zu wichtige Waffe, um sie nicht zu gebrauchen. Jedes Volk und jedes Zeitalter nutze dieses psychologische Moment. Schon im Krieg zwischen Persien und Ägypten wird von Hinrichtungen vor den Augen des Gegners und vom Trinken des Blutes des Opfers im Angesicht des Vaters berichtet. Bei den Römern trug der Standartenträger einen Löwenkopf, die Samurai hatten wilde Fratzen auf ihren Helmen. Um den Gegner zu demoralisieren, wurde die eroberte Stadt zuerst geplündert, bevor wieder Ordnung eintrat.

Diese sozialen Verhaltensweisen richten sich allerdings nicht nur auf die Gegner, sondern es werden damit auch innerhalb der Gruppe die Rangfolge und der „Platz im Rudel“ festgelegt. Innerhalb primitiver Gesellschaften herrscht eine konstante Gewaltbereitschaft, um den errungenen Platz zu verteidigen und gegebenenfalls nach oben auszubauen. Aus dieser Grundhaltung entstehen lange Rachefehden wegen geringster Ehrverletzungen. Das erinnert nicht zufällig an die Rangkämpfe in einem Wolfsrudel. Von Menschen wird der Rangkampf aufgrund seiner Vernunft abstrahiert und auf eine symbolische Ebene gehoben. Er kann seine alten Erfolge vorweisen, durch Trophäen in seiner Geschichte zurückreisen und so wieder ein Drohpotential aufbauen, das seine Stellung im Rudel, aber auch die Stellung gegenüber Feinden sichert. Das soll nicht nur den potentiellen Gegner abschrecken, sondern den Träger der Trophäe auch wiederum magisch schützen. Selbst das Skalpieren des Gegners im „Wilden Westen“ kann als solch magischer Akt gesehen werden. Neben der magischen Komponente, ist die Trophäe auch ein Zeichen des „Handwerks“ des Kriegers und sagt aus: „Schaut her, so viele habe ich schon getötet. Nehmt euch in Acht vor mir, sonst hängt ihr auch an meinem Gürtel.“

Wie fundamental diese Riten sind, zeigt ihr Vorkommen in allen kriegerischen Kulturen auf der Erde. Kopfjagd und Skalpieren findet sich im Pazifik, bei den Thrakern, Skythen und in Nord- und Südamerika. Die Griechen haben sich Schauergeschichten erzählt, dass die Skythen das Blut ihrer Feinde trinken. Man formte Trinkbecher aus den Schädeln berühmter Feinde oder nähte Mäntel aus deren Skalpen. Die Mischung aus Märchen und Wahrheit ist durchaus gewollt und trägt zur Wirkung beim Gegner bei.

Die Zeit des wilden Kriegers war bei den Germanen zeitlich beschränkt. Mit dem Übertritt des Kindes ins Jugendalter wurde der Jugendliche zum Mitglied der Kriegerbünde, einer Gesellschaft die außerhalb der „normalen“ Normen und Moral der germanischen Gesellschaft lag. Die Kriegerbünde prägten das Bild der Berserker und Ulfhednar, wilde Krieger mit wenig, außer mit Tierfellen und/oder Masken bekleidet, die ohne Rücksicht auf Verluste kämpften und den Furor Teutonicus begründeten. Als wilde Horde zogen sie durch die Lande und gaben so der „Wilden Jagd“ eine reale Entsprechung. Sie galten für die Gemeinschaft als tot, was wahrscheinlich ihre Kampfbereitschaft steigerte. Kris Kershaw sieht in diesen marodierenden Horden auch den Ursprung des Fasnachtsbrauches, die Bewohner eines Hauses in wilden Masken um Essen anzubetteln. Wann das genaue Ende der „wilden Jahre“ war, lässt sich rückblickend schwer feststellen. Wahrscheinlich lag die Zeit irgendwo zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Von den Chatten ist das Ritual überliefert, sich nach dem ersten getöteten Feind die Haare und den Bart zu stutzen, vielleicht war dies der erste Schritt aus dem geregelten Ungestüm in das geordnete Leben. Ab dann stand nicht mehr der wilde Kampf im Vordergrund, sondern Familie, Sippe und Besitz. Aus dem wilden Krieger, dessen Fähigkeiten gerne von den Königen als eine Art „Spezialeinheit“ eingesetzt wurden, wurde der wehrhafte Mann. Er hatte nun Erfahrungen im Kampf gesammelt, war fähig, sich und die Seinen zu schützen. Er würde sein Recht bei Schwächung des Heils der Sippe durchsetzen können, aber für politisch motivierte Feldzüge war er nicht mehr der erste Ansprechpartner.

Der Bund war für den Krieger lebenswichtig. Zum einen galt er für die Gesellschaft als Ausgestoßener, als lebender Toter, und der Bund gab ihm sozialen Halt und Sicherheit. Zum anderen konnten ihn nur die Menschen dort verstehen und er konnte dort über sein Leben außerhalb der klassischen Moralvorstellungen sprechen. Wer sonst sollte für ein Leben geprägt von Grausamkeiten und Mord Verständnis aufbringen?

Man mag dieses Verhalten als Geschichten aus uralten Zeiten abtun, es ist aber fest in das menschliche Verhalten eingebettet. Bis heute hat sich an den Grundsätzen des Kriegers, seinen Handlungen und Ritualen nur wenig geändert. So findet man unter den Trophäen eines britischen Offiziers aus der Kolonialzeit die Köpfe getöteter Maoris. Im Kongokrieg wurden zwei Söldner für ihren Schädelhandel unrühmlich bekannt. Ähnliche grausame Berichte kennen wir aus Vietnam, Korea und als aktuelles Beispiel dem Irakkrieg.

Moderne Elitesoldaten greifen tief in die Geschichte zurück und schmücken sich mit Tribals. Dabei werden Motive von Skythen und Maoris aufgegriffen, die den Körper auf magische Weise schützen und die Zusammengehörigkeit mit den Kameraden zeigen sollen. Man sieht sich in der Tradition dieser Kriegervölker. Schon die Tarnfarbe wird mit Hingabe aufgetragen, es geht nicht nur um Tarnung, es ist eine archaische Kriegsbemalung. Der Schrecken des Krieges wird mit uralten Ritualen wieder abgewehrt: Kameradschaften und Bünde sollen dem Krieger eine Familie sein, die er in der Gesellschaft seiner Taten wegen nicht gründen könnte. Im Umgang mit dem eigenen Schrecken und der gleichzeitigen Verwendung des Terrors als Waffe wird wieder auf uralte Riten nomadischer Krieger zurückgegriffen. Die beeindruckendste Umsetzung dieser magischen Metamorphose vom zivilisierten Soldaten zum archetypischen Krieger gelang Francis Ford Coppola in seinem Film Apocalypse Now. In der literarischen Vorlage des Films verarbeitet Joseph Conrad seine Kongoerlebnisse. Damals hatte er beobachtet, wie sich die Repräsentanten der Zivilisation zu barbarischen Kriegsherren wandelten. Die Trennlinie zwischen zivilisiertem Verhalten und hemmungsloser Brutalität wurde auch von denen überschritten, von denen Conrad das nie erwartet hätte. Bevor Willard – der Abgesandte der Zivilisation – seinen Auftrag im Film ausführen kann, verwandelt er sich selbst durch Kriegsbemalung und Bad in einen Krieger. Erst danach kann er Kurtz, den barbarischen Colonel, in Form einer rituellen Schlachtung töten. Auf ähnliche Weise hatte sich schon 1976 Robert de Niro in Martin Scorseses Taxi Driver auf den Showdown vorbereitet. Weder Coppola noch Scorsese hatten sich diese Rituale ausgedacht, sondern sie bei Vietnamveteranen beobachtet.

Das Verhalten der Krieger ist also durch die Zeiten gleich geblieben, nicht aber die Haltung der „Bauern“ ihnen gegenüber. Während die soziale Gruppe der Krieger sich innerlich kaum von den Ritualen der Urgesellschaft entfernt hat, haben sich die beiden anderen Gruppen im Laufe der Zeit deutlich transformiert. Bis ins 17. Jahrhundert kann man in den Berichten der Söldner keine Scham über ihre Arbeit finden, mit den napoleonischen Kriegen aber hatte sich diese Haltung geändert. Die Taten wurden entweder verschwiegen oder aber als Unrecht empfunden. Die Zeit der Aufklärung hatte ihre Wirkung auch bei den Menschen hinterlassen, die dem blutigen Handwerk nachgingen. Gebraucht wurden sie immer noch, aber ihre „Arbeit“ war nicht länger akzeptiertes Handeln der Gesellschaft. Die Kriege waren immer noch blutig und forderten Menschenleben. Aber es ging nicht mehr um den Schutz oder das Heil der Sippe, rein politisches Kalkül war an die Stelle dieser Ideale getreten. Die Krieger waren aber immer noch unbeherrschbar, wenn sie einmal losgelassen waren: ein wildes Heer, das sich nicht an Regeln hielt, die man ihnen gegeben hatte, hießen sie nun Genfer Konventionen oder Menschenrechte.

Wie schon erwähnt, war der Krieger im germanischen Kontext fest in ein soziales Gefüge – dem Männerbund – eingebunden. Diesem gehörte er an, bis er eine Familie gründete und die Seiten wechselte. Insbesondere handelt es sich bei dem Krieger im germanischen Kulturkreis um einen Gefolgschaftskrieger und keinen freien Kämpfer. Man darf sich also nicht den romantisierten Braveheart-Archetypen á la Mel Gibson vorstellen, der Gondor vor den Orks verteidigt, sondern es handelte sich um einen Söldner, der für seinen persönlichen Ruhm und vor allem für Reichtum kämpfte. Allerdings darf man auch nicht so weit gehen und die Valhall-Vorstellung für sehr repräsentativ nehmen. Wenn sie in der Dichtung so unverhältnismäßig hervortritt, dann deshalb, weil die entsprechenden Gedichte Adelige und ihre Gefolgschaft als Zielpublikum hatte. In diesen Berufskriegerverbänden mag diese Jenseitsvorstellung gepflegt worden sein. Bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung dürfte aber eine etwas ruhigere und angenehmere Jenseitsvorstellung gängig gewesen sein und nicht die, dass die Widerwärtigkeiten des Lebens sich dergestalt auch im Jenseits fortsetzen. Auch wenn der Krieger ein zentrales Element der Gesellschaft war, darf man ihn dennoch nicht überbewerten. Es handelte sich nur um einen sehr kurzen Abschnitt im Leben eines Mannes, den er als reiner Krieger verbrachte. Aber die Lehren und Erfahrungen aus dieser Zeit blieben ihm natürlich erhalten.

So wäre auch zum Ende dieses Abschnittes noch die Bemerkung angebracht, dass Dumézils sehr strenge Einteilung von heutigen Fachleuten weitgehend abgelehnt wird, aber immer noch einen guten Denkansatz liefert.

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Zwei Gefühle treten uns so als Ursachen dieser Springflut sinnlicher Erscheinungen entgegen: Der Drang des Lebens, sich noch einmal gesteigert zu äußern, und die Flucht in das Dickicht der Räusche, um in der Lust die drohenden Gefahren zu vergessen. Daneben schwingt natürlich viel anderes mit, doch unsere beschränkte Fragestellung wird dem Reiche der Seele ja immer nur kleine Provinzen entreißen können.

Kehren wir wieder zurück zum Jetzt und vor allem zum Hier. Die beschriebenen Verhaltensmuster mögen uns fremd und barbarisch anmuten, aber im Kleinen finden sie täglich statt, und jeder hat vermutlich dieses Muster aus Drohgebärden und Imponiergehabe schon am eigenen Körper erlebt: den Ritualkampf. Er wird von Soziologen in vier Stufen eingeteilt, dem visuellen Vorspiel, der verbalen Phase, der körperlichen Drohung und dem Schlussakt. Im visuellen Vorspiel wird ein Blick vom Gegner als Angriff gedeutet, er richtet sich auf und beginnt das Ritual. Meistens mit den Worten „Was guckst du?“ leitet er die verbale Phase ein und bringt die beiden Kontrahenten in eine Verbindung miteinander. Fällt dem Angesprochenen nun nichts Kluges ein, folgt rasant die körperliche Drohung. Der Gegner tritt auf seinen Kontrahenten zu, schränkt seinen Raum ein und macht ihm so seinen Rang streitig. Um seinen Anspruch auf einen höheren Rang zu unterstreichen, wird der Gegner geschubst und so im wahrsten Sinne des Wortes seines Platzes verwiesen. Sollte der Kampf nun nicht schon zu Ende und der Rang im Raum neu vergeben sein, kommt es zum Schlussakt: dem eigentlichen Kampf. Kann man bei diesem alltäglichen Verhalten auch im Kleinen tatsächlich sagen, dass der Krieger nicht mehr zeitgemäß sei?

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Man muss sich die Frage stellen: Können Krieger ohne diese Bünde heute überhaupt existieren, geschweige denn, hätten sie in der Gesellschaft den nötigen Rückhalt für ihre Handlungsweisen? Die Frage lässt sich relativ schnell verneinen, niemand möchte ernsthaft marodierende Banden erleben und ihr Tun als Auftrag der Götter sehen. Das spricht zwar gegen den Krieger in der authentischen Rekonstruktion, lässt aber Raum für neue Ideen und soziale Formen. Soziale Formen, die aus meiner Sicht für Menschen wichtig sind und auch wieder benötigt werden.

Die Suche nach „geregeltem Ungestüm“ ist auch heute noch präsent und wird durch modernere Bünde befriedigt. Diese können zum Teil wiederum auf eine eigene lange Geschichte zurückblicken. Zwei der ältesten Bünde haben ihren Ursprung im gleichen historischen Ereignis, den Befreiungskriegen von 1813-1815 gegen das napoleonische Heer. Im Februar 1813 gründete Ludwig Adolph Wilhelm von Lützow ein Freikorps im Rahmen des preußischen Heeres: Die „Lützower Jäger“ bestanden ausschließlich aus Studenten und Akademikern aller damaligen Kleinstaaten und waren Selbstversorger: Sie erhielten keinen Sold und bezahlten auch ihre Ausrüstung selber. Ihre Uniformen (schwarz mit roten Aufschlägen und goldenen Knöpfen) wurden farblich das Vorbild für die Burschenschaften und später für die deutsche Nationalflagge. Dieses Freikorps war die Grundlage zweier Bünde, wie wir sie heute noch kennen, zum einen in der militärischen traditionsorientierten Philosophie der Schützenvereine und Bürgerwehren, zum anderen in der demokratischen Philosophie der Burschenschaften.

Die heutigen Schützenvereine lassen aber kaum noch etwas von ihrer kriegerischen Vergangenheit spüren, Traditionspflege und Volksfeste sind in den Vordergrund getreten. Dennoch ist es gerade in kleinen Dörfern nahezu die „Pflicht“ eines jeden jungen Mannes, in den Schützenverein einzutreten und sich dort einen Namen zu machen.

Ganz im Gegensatz dazu steht bei vielen Burschenschaften noch ein kriegerisches Element im Mittelpunkt ihres „bündischen Lebens“, der Kampf mit einer Klinge, die Mensur. Das studentische Fechten hat seine historischen Wurzeln nicht in einer militärischen Tradition, sondern in einem sehr pragmatischen Grund, der Selbstverteidigung. Vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit war die öffentliche Sicherheit gerade bei Überlandreisen kaum gewährleistet. Da besonders Schüler und Studenten oft lange zu ihren Studienorten reisen mussten, erlaubte Kaiser Maximilian I. von Habsburg ihnen 1514 das Tragen von Waffen zum Selbstschutz. Dieses Privileg wurde außer den Studenten nur dem Adel und dem Militär gewährt: Es war damit Ausweis einer gehobenen gesellschaftlichen Position. Zu dieser Zeit nutzte man in erster Linie die Waffen, die man sich leisten konnte (meist Schwert und Dussack). Eine spezielle Form des studentischen Fechtens war noch nicht bekannt. Im Laufe der Zeit trat der Degen in den Vordergrund als Hauptwaffe, bald darauf das noch leichtere Rapier, womit sich auch die Technik vom Schlagen zum Stechen wandelte.

Mit dem Sonderprivileg des Waffentragens entwickelte sich auch ein besonderes Ständegefühl, wie bei jeder Peergruppe entstand eine eigene Sprache mit eigenen Regeln. Diese Regeln beruhten auf einem strengen Ehrenkodex, dessen Bruch oder in Fragestellung zu Duellen führte. Besonders im 16. und 17. Jahrhundert wuchs die Brutalität der Duelle stark an, und die Universitäten versuchten durch Fechtunterricht die Situation zu entschärfen und in geregelte Bahnen zu lenken. Durch strenge Duellregeln wurde ebenfalls versucht, die bis dato tödlichen Duelle zu entschärfen. Zu einem Ehrenduell gehörten ab dem 17. Jahrhundert Kartellträger und Sekundanten, die dafür zu sorgen hatten, dass der Unterlegene nicht mehr einfach liegen gelassen wurde und verblutete.

Mitte des 18. Jahrhunderts kam der „Pariser“ in Mode, ein sehr leichter und extrem schneller Stoßdegen, der die Duelle wieder zu tödlichen Gefechten machte. Ein einfaches Kräftemessen war fast nicht mehr möglich. Daraufhin wurde in Göttingen die bis heute übliche Form des studentischen Fechtens entwickelt, die bis heute in verschiedenen Formen gültig ist: das Hiebfechten (Mensur) mit einer besonderen Waffe, dem Korb- oder Glockenschläger.

Die Mensur (eigentlich der Abstand zwischen zwei Kämpfern) setzt den Kämpfenden strenge Regeln, innerhalb derer er agieren kann. Sie gilt als persönlichkeitsbildend, wobei den Kämpfer vor allem die Ruhe im Anblick der Angst gelehrt werden soll. Für die ursprüngliche Selbstverteidigung kann die Mensur nicht angewandt werden, da die strengen Regeln, die Schlagtechnik und die extrem statische Haltung sich nicht für einen realistischen Kampf eignen.

Die Narben eines solchen Gefechtes – „der Schmiss“ – werden mit besonderem Stolz getragen, ähnlich den bereits erwähnten Trophäen, und festigen den Status innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft.

Im Gegensatz dazu ist die soziale Komponente innerhalb der studentischen Verbindungen bis heute stark ausgeprägt. Die „Alten Herren“ kommen finanziell für die Jungen auf und man sieht sich als Lebensbund innerhalb der Gemeinschaft, eine Art Ersatzfamilie. Ähnlich wie bei den historischen Bünden ist die Bindung während der Jugendzeit (Studium) enger, da man zum Teil auch eigene Häuser besitzt und gemeinschaftlich wohnt, und wird lockerer, sobald das Studium beendet wurde. Aus dem „Fuchs“ von damals ist der „Alte Herr“ geworden, der sich nicht mehr regelmäßig beweisen muss.

Weitere Gruppen seien nur kurz angeschnitten, da sie ein interessantes Themengebiet weiterer Forschung bilden. Bestimmte gesellschaftliche Subkulturen wie Biker oder (Straßen-)Gangs zeigen ein ganz ähnliches soziales Verhalten, wie es historisch beschrieben wird: einen Codex, der innerhalb der Gruppe gilt, bestimmte Zeichen und Trophäen, eine mehr oder weniger strenge Hierarchie, Mutproben und Gewalt als Teil des täglichen Lebens. Ähnlich wie bei den Kriegerbünden ist die Mitgliedschaft innerhalb einer solchen Gruppe nur auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränkt.

Eine sehr moderne und faszinierende Vision eines Bundes schafft David Fincher mit seiner filmischen Umsetzung des Romans von Chuck Palahniuk Fight Club (Drehbuch: Jim Uhls). Im Fight Club ist das zentrale Motiv nicht der Lebensbund oder die Selbstverteidigung, hier tritt das geregelte Ungestüm in den Vordergrund. Man gibt sich selbst Regeln, die wie religiöse Gebote befolgt werden und allen Teilnehmern neuen Halt und Ziele im Leben geben. Der Kampf bei den Treffen verändert sie, körperlich wie geistig.

„We all started seeing things differently. Wherever we went.”[5], sagt der Erzähler im Film und der Zuschauer wird in diese neue Sichtweise miteinbezogen. Die Teilnehmer des Fight Club taxieren ihre Umwelt, nehmen sie intensiver wahr, erkennen Gefahren und Möglichkeiten früher. Innerhalb des Bundes gibt es keine sozialen Unterschiede, der Bürobote ist auf dem gleichen Niveau wie der Manager.

Dies sind einige wenige Bespiele für Männerbünde unserer Zeit. Ist da die Idee von Bünden im heidnischen Umfeld wirklich reine Fantasie? Sowohl die Verbindung und Freundschaft innerhalb des Bundes als auch die Spiritualität von Übergangsritualen ist etwas, was in unserer heutigen Gesellschaft fast gänzlich verloren gegangen ist. Hier neue Bünde zu schaffen und Übergangsriten wieder zu beleben, sehe ich als eines der zentralen Themen des Heidentums in der Zukunft.

Eine moderne Krieger-Definition ist durch die Esoterik hinzugekommen. Da wird vom „Weg des friedlichen Kriegers“ gesprochen, der „Krieger des Lichtes“ leistet seine „Lichtarbeit“, dreht aber keine Glühlampen ein, sondern kämpft gegen dunkle Kräfte. Man fühlt sich schnell an Star Wars erinnert und fragt sich, ob die Lichtseite nicht doch die dunkle Seite der Macht ist, die Seite, die den einfachen, schnellen Weg zeigt, wie Meister Yoda sagen würde. Der einfache Weg deswegen, weil es ein Weg ohne Mühen und Anstrengungen ist. Niemand wird mir widersprechen, wenn ich mich „friedlicher Krieger“ nenne und mit Lichtarbeit kämpfe. Das kann niemand nachvollziehen geschweige denn, mich fordern oder mir meinen Platz streitig machen. Nur stellt sich die Frage, ob der Kirmesschläger sich auch von meiner Lichtarbeit beeindruckt zeigt oder ob hier der Weg der Anstrengung, sei es durch Sport, Rhetorik oder andere Fähigkeiten, nicht doch der bessere ist – weil er der Realität der Welt näher kommt und durch seine Anstrengung auch ehrlicher ist. Wer schwitzt, lernt und dabei auch versagt, ist ehrlich zu sich selbst, denn dieses Versagen – aber auch die kleinen Erfolge – sind ein Spiegel meiner Taten. Damit stellt man sich dem härtesten Gegner überhaupt: sich selbst.

Ist der Krieger damit ad acta gelegt? Ich denke nein, denn seine Fähigkeiten werden auch heute noch gebraucht, wie das Beispiel „Ritualkampf“ weiter oben zeigt. Gemeint ist heute nicht mehr der ungestüme Jugendliche, sondern der Mann, der diese Phase hinter sich hat und den Übergangsritus zum wehrhaften Sippenvorsteher gemacht hat: der Mann, der sich nicht mehr ausprobieren und seine Grenzen kennen lernen muss, sondern diese Grenzen, vor allem aber sich selbst, kennt. Dabei hat er die vorher erlernten Fähigkeiten, nämlich sich zu wehren und seinen Platz (im „Rudel“) zu behaupten, nicht verloren und sie sind ihm nützlich.

Man darf den Krieger heute nicht als Fortführung historischen Verhaltens sehen, sondern muss einen Schritt weiter gehen und den Typus neu definieren und mit Leben füllen. Dazu ist es notwendig, das herauszuarbeiten, was den Krieger ausmacht, unabhängig von historischen oder kulturellen Einflüssen. Ähnlich wie der amerikanische Anthropologe Prof. Michael Harner den Schamanismus untersuchte und dabei einen Satz von Grundlagentechniken entwickelte, die in den schamanischen Traditionen in unterschiedlicher Ausgestaltung angewendet werden. Auf dieser Basis wurde ein kulturunabhängiger Weg zu schamanischer Erfahrung entwickelt, der von Menschen der modernen Welt gegangen werden kann, dem so genannten Core-Schamanismus.

Mit dieser neu zu fassenden Definition hat der Krieger als sozialer Typus wieder einen Platz in einer modernen Gesellschaft. Zunächst ist es notwendig, sich mit dem Archetyp des Kriegers näher zu beschäftigen: Was macht ihn aus? Was ist seine Antriebskraft? Der Psychoanalytiker Moore schreibt dazu Folgendes:

„Ein Mann, der dem Archetyp des Kriegers entspricht, zieht aus ihm eine enorme Kraft, die ihn dazu befähigt ein selbständiges Leben zu führen (…) Wenn der Krieger im Vordergrund steht, spüren wir den Rausch des Blutes und des Adrenalins, eine Verschnellerung des Herzschlages und eine Aufmerksamkeit, die auf den Moment gerichtet ist. Wir fühlen uns bereit zum Handeln, bereit nach vorne zu stürmen und das Leben zu bewältigen. Unsere täglichen Sorgen fallen von uns ab und wir fallen in eine Art Ekstase, in der wir uns und die Welt in einem Focus ungeheurer Schärfe sehen. Die versteckte Wut wird verwandelt in engagierten Mut. Wir kommen in Berührung mit dem großen Geheimnis von Leben und Tod und wir empfinden eine seltsame Schönheit im Schmerz.“[6]

Aus dieser Definition lassen sich drei grundsätzliche Thesen ableiten, die auch der heidnischen Philosophie des Asatru entsprechen:

Ein selbständiges Leben,
Ein Leben für den Moment
Das Leben ist zu bewältigen.

Selbständiges Leben

„Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt.”[7]

Ein komplett autarkes Leben zu führen, kann in unserer Gesellschaft nicht mehr als eine Utopie sein. Wir leben nicht mehr in einer Agrargesellschaft, und für die meisten von uns ist Landwirtschaft sehr weit vom täglichen Leben entfernt. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang keine Einzelgängermentalität gemeint, die dem Sippen- und Gemeinschaftsgedanken des Asatru entgegenstehen würde.

In unserer hoch spezialisierten Gesellschaft ist es nicht mehr möglich, allen Aufgaben des Lebens selbst nachzukommen. Möglich ist aber nach wie vor, sich stetig gut informiert zu halten, um so die Aufgaben, die wir abgeben, besser einschätzen zu können. Damit ein Krieger die Situation auch stets richtig erfassen und einschätzen kann, ist er einem lebenslangen Lernprozess unterworfen. Denn nur so kann er sich den ständig neuen Herausforderungen im Leben stellen, die richtigen Entscheidungen fällen und selber handeln. Dabei gibt es keine Einschränkung im Spektrum des zu Erlernenden, denn jede Fähigkeit und jedes Wissen kann irgendwann gebraucht oder in abstrahierter Form angewandt werden. Der Krieger definiert seine eigenen Schwerpunkte, die auch seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechen. Aber wir sollten uns dabei nicht zu weit vom Kriegerbild entfernen, ein rein spiritueller Krieger ist eine Erfindung der Esoterik, die einen bequemen spirituellen Weg sucht. Es gibt zentrale Fähigkeiten, die jeder Krieger beherrschen sollte: grundlegende Kenntnisse in Medizin (Erste Hilfe), Kampfkunst, handwerkliche Fertigkeiten und Nahrungszubereitung. Diese Forderungen mögen im ersten Moment profan und etwas lächerlich wirken, aber sie sind die vier zentralen Pfeiler eines selbständigen Lebens. Sich verteidigen, sich heilen, sich versorgen und sich ernähren zu können. Auf diesen vier Säulen ruht alles weitere Wissen, Lernen und Leben.

Ein Leben für den Moment

„Be like water, my friend“[8]

Dass man seinen Lebensweg nicht planen kann, ist eine Erfahrung, die früher oder später jeder macht. Unglücke brechen über einen herein, der Weg verläuft ganz anders als vorgesehen, Träume zerplatzen. Darauf gibt es zwei Antworten: Man verschiebt die „gute Zeit“ auf später und freut sich auf ein Paradies, eine Erlösung, einen Aufstieg in der nächsten Reinkarnation. Oder man lebt im Hier und Jetzt, denn aus den Entscheidungen und Taten im Jetzt wird der Pfad der Zukunft. Habe ich jeden Moment voll ausgekostet und mich mit wachem Geist für einen Weg entschieden, brauche ich nicht auf ein besseres Leben zu hoffen. Denn dies hier ist mein Leben, wie ich es mir erschaffen habe. Jeder Tag und jede Handlung bin ich. Um ein Leben mit und für den Moment zu ermöglichen, braucht der Krieger Grundeigenschaften, die auch die vorchristlichen europäischen Stämme ausgezeichnet haben: Pragmatismus und Anpassungsfähigkeit. Wer im Hier und Jetzt lebt und handelt, muss sich mit den gegenwärtigen Bedingungen auseinandersetzen und die vorhandenen Ressourcen nutzen. Wer auf eine bessere Zukunft setzt, braucht sich nicht anzupassen oder zu improvisieren. Er ist nicht einmal verantwortlich für seinen Weg und kann stets die Schuld bei anderen suchen.

Dieser Pragmatismus steht im Widerspruch zum oft zitierten Bild des „edlen Wilden“, des ritterlichen Kriegers, der selbstlos und mit einem strengen Codex durch die Welt zieht, um gute Taten zu vollbringen. Eine pragmatische Lösung eines Problems kann sich nur selten an einen Codex halten, der dem „Feind“ – sei es eine Person oder ein Problem – einen Vorteil bringt. Der Fehdehandschuh bringt einen vielleicht in den Mittelpunkt einer romantischen Erzählung, aber ebenso gibt er dem Gegner Zeit, sich zu sammeln, und dieser hält sich vielleicht nicht an einen Codex, sondern schlägt direkt zurück. Der Krieger weiß: Mit dem Leben für den Moment ist er der Natur und Schöpfung nahe, denn auch die Natur lebt im Jetzt und schöpft ihre unendliche Kraft aus den vorhandenen Ressourcen. Durch perfekte Anpassung vollbringt sie Großartiges. Mit diesem großen Vorbild im Herzen zieht der Krieger in die Welt und erlebt diese in ungeheurer Schärfe und kann sein Handeln bis zur Ekstase steigern.

Das Leben ist zu bewältigen

„Do or do not. There is no try”[9]

Aus der vorherigen These ergibt sich in direkter Konsequenz: Wenn ich mich für ein Leben im Hier und Jetzt entscheide, dann muss ich auch die mir gestellten Aufgaben bewältigen, mich den Herausforderungen stellen und eine Lösung suchen. Das bedeutet allerdings nicht Kampf und Konfrontation ohne Nachdenken und blinder Aktionismus bei jedem Hindernis, das sich einem stellt. Es macht wenig Sinn, sich einer Herausforderung zu stellen, die man zum jetzigen Zeitpunkt nicht für sich entscheiden kann.

Viele kleine und große Probleme im Leben lassen sich durch einfaches Handeln lösen. Leider hält einen meistens der Verstand zurück und sagt einem „Das kann ich nicht“, noch bevor man überhaupt begonnen hat. Schlimmer noch, der Verstand bietet einem viele gute Ausreden an, warum sich der Einsatz erst gar nicht lohnen wird, sodass man sich sogar im Recht fühlt. Der Krieger sucht durch Handeln einen Ausweg zu finden. Wenn etwas zu ändern ist, erfordert es eine Handlung, und zwar eine echte Handlung, keinen halbherzigen Versuch. Wer Ausreden sucht, dem ist die Lösung des Problems nicht wichtig genug.

Eine befreundete Physiotherapeutin fasste diesen Gedanken in Zusammenhang mit einem Patienten ausgezeichnet zusammen:

„Wenn ihre Schmerzen Sie nicht dazu bewegen diese Therapie zu machen, dann tut es ihnen einfach noch nicht weh genug. Lassen sie also das Jammern.“

Genau diese Frage stellt sich der Krieger: Tut es weh genug, dass ich auch mit den Unannehmlichkeiten der Lösung leben kann? Wenn ja, geh es an. Wenn nein, jammere nicht darüber, denn auch dies ist deine Entscheidung.

Mit der Wahl, das Leben zu bewältigen, wie es kommt, und diese Herausforderung anzunehmen, stellt sich der Krieger in den Mittelpunkt des eigenen Lebens und definiert dadurch einen positiven Egoismus. Positiv, weil der eigene Vorteil wichtig ist, um die selbstgesetzten Ziele zu erreichen, letztendlich aber auch, um selbst glücklich und zufrieden leben zu können. Ein Altruismus, der komplett auf den Vorteil anderer ausgerichtet ist, führt zur Selbstaufgabe und kann damit nicht im Sinne eines selbstbestimmten Lebens sein. Hingegen einen Vorteil für die eigene Sippe oder Bund zu erkämpfen, entspricht vollständig diesem positiven Egoismus, denn der Bund bildet die Grundlage für den Krieger.

Gänzlich falsch wäre es aber, hieraus eine Philosophie abzuleiten, die ohne Rücksicht ist, keine Schwächen kennt und diese sogar verachtet. Nur wer um seine eigenen Schwächen weiß und sie erfahren hat, kann sie dort vermeiden, wo sie Schaden bringen würden, und eventuell kann man seine eigenen Schwächen in einem Vorteil verwandeln. Das Bild eines egoistischen, muskelbepackten Testosteron-Monsters, das keine Schwächen kennt, entspricht nicht im Geringsten dem Bild eines modernen Kriegers.

***

Der moderne Krieger ist also kein rückwärtsgewandter Reenactor oder aggressiver Muskelprotz. Er ist ein Mensch, der sein Leben und das seiner Sippe in die Hand nimmt und zu schützen weiß. Er handelt in dem gleichen Geist, wie viele Generationen vor ihm, und nutzt das, was ihm seine Umwelt als Werkstoff anbietet. Das Werkzeug bringt er mit: einen hellen Geist mit unkonventionellem Denken, Anpassungsfähigkeit, Pragmatismus und dem steten Willen zum Handeln und der Bereitschaft, sich den Herausforderungen zu stellen. Letztendlich kann dies aber nur die Grundlage sein, auf die wir durch Lernen und Erleben wieder den Weg des Kriegers gehen können. Ein Weg, der dem Krieger-Archetypen entspricht: ohne vorgefassten Plan und einengende Regeln das Leben zu bewältigen, dazuzulernen und so auch den Pfad des Kriegers um neue Aspekte zu bereichern.

Endnoten

1 Steinbock, Fritz (2005): Interview zur Veröffentlichung des Buches „Das Heilige Fest“. In: Herdfeuer 8 (Jahrgang 4/2005). Kiel. S. 27.

2 Dumézil, G. (1989): Mythos und Epos. Die Ideologie der drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker. Frankfurt/New York: Campus. S. 12.

3 ebd. S. 49.

4 Jünger, Ernst (1926): Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin: E.S. Mittler und Sohn.

5 Palahniuk, Chuck (2004): Fight Club. München: Goldmann

6 Moore, Robert and Gillette, Douglas (1992): The Warrior Within. Accessing the Knight in the Male Pysche. San Francisco: Harper Collins. S. 184.

7 Jünger, Ernst (2001): Der Waldgang. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 28.

8 Lee, Bruce (1975): The Tao of Jeet Kune Do. Ohama: Ohama Publications Inc.. S. 11.

9 Lucas, George (1976): Star Wars – The Empire strikes Back

Quellen und weiterführende Literatur

Barger, Ralph (2003): Hell’s Angel. Berlin: rororo

Brown, Tom (1978): The Tracker. New York: Penguin

Brown, Tom (1988): The Vision. New York: Penguin

Conrad, Joseph (1991): Herz der Finsternis. Ditzingen: Reclam

Coppola, Francis Ford (2002): Apocalypse Now Redux. Universum Film

Dumézil, G. (1964): Aspekte der Kriegerfunktion bei den Indogermanen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Egon Eis, Duell (1971): Geschichte und Geschichten des Zweikampfs. München: Desch

Höfler, Otto (1934): Kultische Geheimbünde der Germanen. Frankfurt am Main: Diesterweg

Keegan, John (1997): Die Kultur des Krieges. Berlin: Rowohlt

Kernspecht, Keith R. (2000): Blitzdefence. Burg: Wu Shu-Verlag

Kershaw, Kris (2003): Odin. Uhlstädt: Arun-Verlag

McKone Kim R. (1987): Hund, Wolf und Krieger bei den Indogermanen. In: Meid, Wolfgang (Hg.): Studien zum indogermanischen Wortschatz. Innsbruck: Inst. f. Sprachwiss. 1987 (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft; 52)

Meiser, Gerhard; Das, Rahul Peter [Hrsg.] (2002): Geregeltes Ungestüm. Bruderschaften und Jugendbünde bei indogermanischen Völkern. Bremen: Hempen

Musashi, Miyamoto (1992): The Book of five rings. New York: Bantam

Plottkin, Bill (2003): Soulcraft. Novato: New World Library

Price, Arnold H. (1974): Die Nibelungen als kriegerischer Weihebund. In: Vierteljahrschrift für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte Jg. 61/1974

Erschienen 2009 in Herdfeuer 26


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