Das Ritual – Die Handlung als Weg

Eine persönliche Betrachtung des Kultes im modernen Asatru

von Christian Bartel

Das Ritual ist sich wiederholende Handlung und damit Sicherheit. Von ihrer Intention unterscheiden sich die Rituale des Asatru nicht so sehr von denen anderer Religionen. Sie sollen neben dem Kontakt mit den Göttern und Ahnen durch das Gemeinschaftserlebnis und den Wiedererkennungswert Sicherheit und Halt bieten. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf Rekonstruktionen historischer Riten, sondern auf dem Funktionieren eines Prinzips. Es wäre ein Missverständnis, zu glauben, dass nur solche Handlungen „echt“ sind, die sich auf historische Überlieferungen stützen lassen und damit „authentisch“ sind.

Im ersten Kontakt könnten Menschen sich an Riten der Kirche erinnert fühlen. Daraus resultiert manchmal der Vorwurf, ein Blót sei ja gar nicht so anders als ein christlicher Gottesdienst. Dem kann man entgegenhalten, dass dem eine sehr ähnliche Intention zugrunde liegt: eine Opferung an die Götter und damit eine Kontaktaufnahme zu höheren Mächten. Näher betrachtet ist ein Blót aber doch in wesentlichen Punkten anders als eine christliche Liturgie (abgesehen davon, dass es sich um andere Mächte handelt, die im jeweiligen Mittelpunkt stehen). Zum einen findet ein Blót in der Regel in kleineren, intimeren Gruppen statt und bietet daher viel mehr Raum für persönliche Entfaltung als eine Messe. Zum anderen ist es das erklärte Ziel von Kultgemeinschaften des Eldarings, möglichst viele der Mitglieder an Kulthandlungen zu beteiligen. Es gibt keinen Priesterstatus, der das alleinige Recht für Kulthandlungen einschließen würde, und jeder einzelne Mensch hat das Recht, sich direkt an die Götter zu wenden. Übrigens ebenso, wie jeder Mensch das Recht hat, für diesen Kontakt Mittler zu konsultieren, wenn er sich selbst nicht in der Lage sieht, den Kontakt herzustellen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, werden so viele der Blótteilnehmer wie möglich in die aktiven Handlungen eingebunden. Jeder muss die Möglichkeit haben, den Kontakt zu fühlen und das Ritual bewusst mit zu gestalten.

Natürlich haben sich hier einige Formen herausgebildet, die gerne immer wieder verwendet werden. Ein Beispiel dafür ist das Hammerritual, das in der Vergangenheit nicht unumstritten war, sich aber dennoch einen festen Platz im modernen Kult erworben hat. Und das nicht, weil es historisch belegbar wäre (was es nicht ist), sondern weil es einen Zweck erfüllt.

Natürlich hat es eine gewisse Anmut, Rituale von den Menschen zu rekonstruieren, die noch in einem heidnischen Umfeld lebten, namentlich von unseren Vorfahren. Es gibt in den Quellen aber sehr wenig über den Kult zu finden, und das ergibt nicht annähernd ein geschlossenes Bild. Daher ist es legitim und notwendig, sich Rituale zu schaffen. Das Ziel ist eben nicht die historische Korrektheit, sondern der Zweck, den sie für die Gemeinschaft und den Einzelnen erfüllen.

Natürlich handelt es sich hier um eine Gratwanderung. Einerseits müssen Rituale neu geschaffen werden, um Lücken der unterbrochenen Überlieferung zu füllen, andererseits aber darf dieses Vorgehen nicht zu allzu spekulativen Konstrukten führen, die den Bodenkontakt zu verlieren drohen und in denen der Geist der Religion unserer Vorfahren nicht mehr zu erkennen ist. Eine beliebte Praxis der sogenannten „freifliegenden“ Heiden scheint es zu sein, Traditionen zu mischen und sich bunte Rituale zusammenzustellen, die alle möglichen Einflüsse aufweisen. Das kann in meinen Augen (!) nicht der Weg des Asatru sein. Die Überlieferungen sind zwar auf den ersten Blick nicht so üppig an Kultbeschreibungen, aber sie bieten vielleicht gerade deshalb sehr viel Raum und auch Spielraum für Rituale, die an historischen Kontext angelehnt sind und trotzdem ihren heutigen Zweck erfüllen. Es muss nicht immer das ritualmagisch verwurzelte Hammerritual sein. Warum nicht mal eine Thingeinfriedung nach Vorbild der Grettis saga? Hier sind der Phantasie in meinen Augen zwar Grenzen gesetzt (nämlich die unserer eigenen Auffassung von Asatru), aber das Feld ist so überwältigend weit, dass es ein Menschenleben und länger dauern mag, es zu erforschen.

Meiner Meinung nach bewege ich mich innerhalb von Asatru in einem geschlossenen mythologischen System. Ich kenne zwar z.B. die griechische Mythologie aus Büchern, aber sie hat in meinen ganz persönlichen Ritualen keinen Platz. Ebensowenig wie die ägyptische oder indianische. Ich selbst habe kein Bedürfnis nach synonymen göttlichen Prinzipien, die für mich wie die Übersetzungen meiner mythologischen Sprache in eine andere sind. Dennoch sind Anleihen bei der Handlung selbst kein Tabu, wenn man sie sozusagen in den eigenen mythologischen Kontext „übersetzt“ und sich dieser Handlung sehr bewusst ist. Als Beispiel dafür sei z.B. die Möglichkeit erwähnt, eine Art Tarotset in den nordischen Kontext zu stellen, wie es Voenix mit seinem Kartendeck in einer künstlerisch sehr ansprechenden Form getan hat. Das Konzept ist sicherlich nicht historisch, aber das wird dort auch nicht behauptet. Ein solches Set gehört nicht zu meinen Utensilien für ein Ritual, aber es hat in meinen Augen, mehr als jedes „Golden Dawn“-Deck, seinen Platz im Asatru verdient. Die Grenzen dessen, was noch zu Asatru gehört und was nicht, werden heutzutage sehr unterschiedlich und individuell definiert. Dennoch gibt es in Ermangelung eines besseren Begriffes ein „Grundrauschen“, welches das diffuse Gruppengefühl widerspiegelt, was zu weit hergeholt erscheint und was nicht. Dieses Grundrauschen mag einer gewissen Mode gegenüber nicht ganz unempfänglich sein und es mag sich von einer Gruppe zur anderen unterscheiden, es spiegelt aber die Bedürfnisse der Gläubigen wider und das ist es schließlich, was letztlich zählt.

Ein anderer Aspekt dieser konstruierten Rituale ist der sehr wichtige Bereich der Improvisation. Sehr viele Elemente moderner Rituale des Asatru entstammen einem plötzlichen Einfall eines Blót-Teilnehmers, den dieser sofort bei der Kulthandlung spontan in die Tat umsetzte. Solche spontanen Handlungen werden wiederholt, wenn sie bei den Anwesenden eine Saite zum klingen bringen und das Blót insgesamt bereichern. So entwickeln sich neue Traditionen, in meinen Augen ein Zeichen einer lebendigen, sich entwickelnden Religion. Auf jeden Fall aber muss der Anschein vermieden werden, es handele sich bei in Wirklichkeit rekonstruierten, konstruierten oder spontan improvisierten Handlungen um altehrwürdige, Jahrtausende alte Traditionen. Es gibt Fälle genug, wo genau dieser Eindruck bei Menschen bewusst erzeugt und genährt wird.

Kritik am Ritual sei jedem gestattet, wenn auch mit dem nötigen Respekt. Da es den Teilnehmern eine wichtige, ja heilige Handlung ist, ist eigene Kritik am ehesten dadurch zu verwirklichen, dass man sich beim nächsten Mal meldet und eigene Vorstellungen in die Gestaltung einbringt. Der Ablauf der Handlungen wird in der Regel vorher durchgesprochen, und solche Gespräche bieten Raum für Veränderungsvorschläge auch bei vermeintlich festen Bestandteilen des Blót. Auf diese Weise wird sich schnell herausstellen, ob die eigene Idee praktikabel und gruppentauglich ist. Asatru ist eine Religion der Macher, nicht der Schäfchen, die sich führen lassen müssen und sich dann wundern, wenn das an der Schlachtbank endet …

Erschienen 2004 in Herdfeuer 6

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