AG Seidhr – Germanischer Schamanismus

Warum wir das Wort SEIDHR benutzen

Möchte man heute beschreiben, was unsere Vorfahren an Austausch mit der sogenannten „Anderswelt“ (NAW = nichtalltägliche Wirklichkeit) betrieben, gerät man schnell auf dünnes Eis. Die Quellen dafür sind zwar eindeutig, in Details aber wenig aussagekräftig. „Magische und schamanische“ Techniken waren – wie in allen vormodernen Gesellschaften – auch bei unseren mitteleuropäischen Vorfahren gängige Praxis. Während magisches Denken auch heute noch ein Grundbestandteil der menschlichen Psyche ist (auch wenn das den meisten nicht bewusst ist), ist das bei schamanischen Trance-Techniken anders. Hier gibt es keine durchgängig ungebrochene Tradition mehr, auf die wir zurückblicken und aus der wir schöpfen könnten. Da diese spirituellen Techniken aber nicht regional beschränkt sondern universell gültig sind, ist es legitim, sie aus anderen Kulturen zu rekonstruieren und so neue, eigene Traditionen zu schaffen.

Dass „schamanische“ Techniken, wie noch manchmal behauptet wird, allein aus dem samisch-finnischen Kulturkreis zu den Wikingern und damit in den germanischen Bereich gekommen sein sollen, ist mit einem Blick auf die Funde und Quellen mehr als unwahrscheinlich. Archäologische Funde aus den unterschiedlichsten Epochen belegen deutlich Personen in entsprechenden gesellschaftlichen Positionen, und die Utensilien legen „magische“ Tätigkeiten nahe (von dem steinzeitlichen „Schamanengrab“ von Bad Dürrenberg bis zur wikingerzeitlichen Schiffsbestattung von Oseberg). Auch der Name Wodans lässt zusammen mit seinem Gesamtkontext neben vielen anderen Facetten auf Kundigkeit in „schamanischen“ Techniken schließen – ebenso Beschreibungen der Göttin Freya.

Schamanismus, der geliehene Begriff

Der heute häufig benutzte Sammelbegriff „Schamanismus“ soll dabei nicht ausdrücken, dass die verschiedenen Ausprägungen des Schamanismus weltweit identisch wären, und nicht immer müssen in jeder Kultur zwangsläufig alle genannten Elemente vorhanden sein. Ursprünglich auf die Riten einiger sibirischer Völker wie z. B. Ewenken und Jakuten beschränkt, hat der Begriff Schamanismus längst die Grenzen der Bedeutung seiner Herkunftskulturen überschritten. Für Außenstehende – Laien wie Profis – ermöglicht der Begriff auch ohne tiefe Kenntnis der einzelnen Techniken, Kulturen oder Riten einen groben Überblick und ist hilfreich, um zumindest mit einer Art gemeinsamer Sprache über die erlebten Phänomene zu sprechen. Die Bezeichnung wird heute als seriöser Überbegriff für traditionelle magische und hellseherische Praktiken benutzt. Die Menschen, die diese Techniken ausüben, werden häufig als „Schamanen“ bezeichnet. (Der Duden definiert Schamanen als bei bestimmten Naturvölkern mit magischen Fähigkeiten ausgetattete Personen, besonders der Fähigkeit, mit Geistern in Verbindung zu treten, die als Priester, Medizinmann usw. fungieren).

Dennoch wollen wir hier künftig den Begriff „SEIDHR“ (Seiðr) benutzen, den unsere eigene Mythologie hervorgebracht hat. Dieser altnordische Oberbegriff umfasst heute sowohl die rein magischen Techniken (Seidhr = Zauberei), den „Galdr“ (Zaubersprüche und -gesänge), Runenzauber, als auch den Bereich von „Oracular Seidhr“ (Trance-Rituale und Spá), der im Wesentlichen die auch bei anderen Völkern praktizierten, schamanischen Techniken beschreibt. Dass es solche magischen Spezialisten auch in den germanischen Traditionen gegeben hat, steht auf Grund der Quellenlage außer Zweifel.

Die altnordischen Quellen kennen verschiedene Fachbegriffe für solche Spezialisten: Seiðkona (Zauberfrau) bzw. Seiðmaðr (Zaubermann) oder Vitki waren in der Zauberei bewanderte Frauen und Männer. Personen mit seherischen Trance-Fähigkeiten wurden Spákona bzw. Spámaðr genannt (der Begriff „“spá“ ist mit dem deutschen Wort „spähen“ verwandt). Solche Wahrsagerinnen, die schamanische Techniken anwandten, wurden auch als Völva bzw. Wala bezeichnet (beide Begriffe bedeuten „Stabträgerin“). In Abgrenzung zur reinen Zauberei des Seiðr hat Diana L. Paxson dafür den Begriff „Oracular Seidhr“ geprägt.

Wandernde Seherinnen gaben prophetische Vorhersagen und halfen bei der Deutung von Orakeln (Die ausführlichste Schilderung ist die Beschreibung der Seherin Thorbjörg in der Saga von Erik dem Roten). Sicher gab es in jedem Ort auch jemanden, der Krankheiten vertreiben und Wunden besprechen konnte. Hebammen, stets dicht am neuen Leben, das ebenso schnell wieder vergehen kann, halfen über die Schwelle vom Jenseits ins Diesseits und kaum weniger häufig direkt wieder zurück. Ganze Trauergelage überschritten selbst die Grenze ein Stück, um den Toten hinüber zu geleiten. Und immer war Seidhr (Magie) zugegen, im kleinen Alltag, wie bei großen Ereignissen.

Rituale, Trance und Spá, also alle Techniken des Oracular Seidr, sind reale und wirksame Lebenshilfen für Gemeinschaften und einzelne Individuen. Dabei ist es letztlich irrelevant, ob das Erlebte „nur“ in der Innenwelt passiert ist oder in der „Anderen Welt“. Entscheidend ist: Richtig ausgeführt hat das Wirken von Seidhr zum Wohle einen nachhaltigen Einfluss auf diese Welt. Die Frage nach der Realität dieses Weges bleibt eine philosophische. So wenig, wie sich die Existenz deiner Götter/des Göttlichen beweisen lassen, so wird sich auch kaum die „nichtalltägliche Wirklichkeit“ beweisen lassen. Und warum sollte man das auch versuchen? Was einzig zählt, ist der Erfolg, oder besser das gewebte Wohl für die Gruppe oder das Individuum.

Jeder Mensch ist in der Lage, mit seinen Göttern/Geistern in Kontakt zu treten und kann es somit auch mit der nichtalltäglichen Wirklichkeit. Es ist so ähnlich wie beim Singen, das kann eigentlich jeder, der eine Stimme hat, sogar Kinder. Die Frage ist eben nur, wie gut. Und so überlässt man das Ausüben von „magischen Handlungen“ bei wichtigen Belangen denen, die damit besonders gut umgehen können und sich auskennen. Kleine alltägliche Kontaktaufnahmen, welcher Art auch immer, ist man geneigt, selber zu tätigen. Steht womöglich alles auf dem Spiel, wird ein Profi/Experte geholt. Nicht, weil er ein besserer Mensch wäre oder den Durchblick allein für sich gepachtet hätte, sondern einfach, weil er das ein bisschen besser und routinierter kann, als manch andere.

In der Regel werden nicht alle der jeweiligen Gemeinschaft bekannten schamanischen Techniken zwingend von einer einzelnen Person ausgeübt. Auch die religiöse Tätigkeit eines regionalen Herrschers oder Hofvorstandes als Ritualleiter muss damit nicht zwangsläufig in Zusammenhang stehen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass Personen aufgrund spezieller Fähigkeiten als Seiðkona/Seiðmaðr oder Völva/Vitki/Spákona tätig waren.

Die AG „Seidhr“ (Oracular-Seidhr/Schamanismus im Eldaring)

Das germanische Heidentum geht von einer beseelten Natur und einer für jeden Menschen erlebbaren Götterwelt aus. Mit all diesen Geistern und Göttern gilt es Kontakt aufzunehmen, allerhand zu erleben, mit ihnen zu verhandeln und sie zu erfahren, sowie all jenen Wesen der „nichtalltäglichen Wirklichkeit“ Gehör zu schenken und in ebensolchem Maße Gehör zu finden mit all den eigenen Belangen.

Die AG „Seidhr“ widmet sich sowohl der historischen Quellenlage des europäischen Schamanismus, als auch heutiger schamanischer Techniken. Insbesondere werden dabei die Praktiken des „Core-Schamanismus“ nach Michael Harner und die Techniken des „Troth“ (wie sie Diana Paxson rekonstruiert hat) angewendet und auf deren Nutzbarkeit und Validität für unseren Kulturraum überprüft. Besonderes Ziel der AG ist es, entsprechend nutzbare, schamanische Techniken weiterzuentwickeln und aktiv anzuwenden. Das Ziel dabei ist letztlich, wieder praktikable, authentische Werkzeuge zur Verfügung zu haben, um diese in den Alltag heutiger Asatru-Gemeinschaften zu integrieren.

Die AG versteht sich dabei ausdrücklich nicht als Reenactment, welches ohne spirituelle Bedeutung historische Vorbilder „nachspielt“. Vielmehr geht es in der Arbeitsgruppe um die Ausübung eines lebendigen Schamanismus auf Augenhöhe, der unserer Gemeinschaft und ihren Mitgliedern dienlich ist. Deshalb ist es wünschenswert, sich hier mit Menschen zu treffen, die bereits über erste Erfahrungen verfügen.

Die AG-Seidhr kann keine professionelle „Ausbildung“ vermitteln, sehr wohl aber Kenntnisse über anwendbare Basistechniken. In dem Rahmen organisiert die AG auch kleine Workshops und Treffen zum gemeinsamen Lernen, Austausch und Trommeln. Kernaufgabe ist die Entwicklung und Durchführung schamanischer (Gruppen-) Rituale im Rahmen des germanischen Heidentums. Ein besonderes Setting der Rituale soll dabei die individuelle Bedeutung hervorheben und unterstützen (Festlichkeit, ungestörter Rahmen, Vertraulichkeit). Denn eines ist Seidhr in all seinen Facetten sicher, ein wirksamer Weg zu innerer Entwicklung.

Weiterführende Literatur

Erwähnungen in der Edda (Simrock-Version):
Völuspá 25-26
Lokasenna 22-24
Hyndlulioð 32

Quellen in den Sagas (Auswahl):
Eiríks saga rauða 4 (Auftritt der Seherin Thorbjörg)
Gisla Saga Surssonar 11 u.18
Laxdaela Saga 35
Vatnsdaela Saga 9
Njalls Saga 6 u. 30
Kormaks Saga 5 u. 6
Landnamabók 194
Hrolfs Saga Kraka

Moderne Sach- und Fachliteratur:
Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik – ISBN 978-3-518-27726-3
Jenny Blain: Seidr. Die neun Welten der Seidr-Magie – ISBN 3-935581-22-X
Thomas Höffgen: Schamanismus bei den Germanen – ISBN 978-3-946425-20-5
Diana L. Paxson: Trance-Portation – ISBN 978-1-57863-405-7
Diana L. Paxson: The Way of the Oracle – ISBN 978-1-57863-483-5
Janet Ferrar & Gavin Bone: Lifting the Veil – ISBN 978-1-936863-85-3
Harald Meller; Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin – ISBN 978-3-498-0030-2
Neil Price: The Viking Way – ISBN 978-1-84217-260-5
Gardela, Bonding & Pentz: The Norse Sorceress – ISBN 978-1-78925-953-7
Michael Harner: Der Weg des Schamanen – ISBN 978-3-453-70242-4
Hans Stucken: Das Seidhr Handbuch – ISBN 978-3-938432-04-4
Kurt Oertel: Seidhr und Völventum. In: Herdfeuer 12 (2006)

Siehe auch die Wikipedia-Einträge zu Schamanismus, Neoschamanismus und Seidhr.

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