Thorgerd – Göttin, Dise, Fylgja oder Walküre?

von Kurt Oertel

Zu Recht wird wird oft darauf hingewiesen, dass es neben den Hochgöttern der Edda zahlreiche – regional ganz unterschiedliche – Kulte und Wesenheiten gegeben haben muss, deren Verehrung im alltäglichen religiösen Leben aber wahrscheinlich sehr viel wichtiger und präsenter war. Darunter dürften auch etliche der Götternamen fallen, die uns durch römische Quellen für die frühen germanischen Völker auf dem Kontinent überliefert sind. Zwar wird immer wieder versucht, diese Namen mit den eddischen Göttern zur Deckung zu bringen, aber diese Versuche muten oft recht willkürlich an und sind meistens hochspekulativ. Diese Versuche sagen somit viel mehr über heutige Systematisierungsbestrebungen als über die tatsächlichen damaligen Verhältnisse aus. Man muss mit der Erkenntnis leben, dass der germanische (und genauso der keltische) Polytheismus ein unkontrollierbarer Wildwuchs war, der sich alle hundert Kilometer in völlig verschiedener Ausprägung zeigte, das aber natürlich vor dem Hintergrund eines gemeinsamen und identischen Weltbildes. Zwar dürfte bei den großen Volkszusammenkünften den bekannten Hochgottheiten geopfert worden sein, in der alltäglichen Praxis aber dürfte es erhebliche Unterschiede nicht nur zwischen Volk und Stamm, sondern sogar auch zwischen Stamm und Sippe gegeben haben, da man sich mit den alltäglichen Sorgen und Bedürfnissen wahrscheinlich sehr viel eher an Alben und Disen, Haus- und Landgeister, Baum- und Quellwesenheiten und andere regional verehrte Gottheiten wandte. Diese Praktiken sind durch schriftliche Quellen leider nur andeutungsweise überliefert, ein Mangel, der nur unwesentlich dadurch gemildert wird, dass diese Kulte sehr viel hartnäckiger überlebt haben und ihre Spuren in ländlichen Gegenden bis in neuere Zeit verfolgbar sind.

Über eine dieser nur regional verehrten Gottheiten – und zwar eine weibliche – liegen nun auch für den altnordischen Bereich einige ungewöhnlich detaillierte Erwähnungen in mehreren Sagas vor, die ihrer weitgehenden Unbekanntheit in Ásatrú-Kreisen wegen hier einmal vorgestellt und kurz kommentiert werden sollen. Optimisten seien aber gewarnt, denn endgültige Aufklärung über Ursprung, Natur und Funktion dieser Gottheit geben die Quellen leider nicht her. Andererseits aber ist ihre Bezeugung so eindeutig, dass es sich dabei auch nicht lediglich um eine literarische Erfindung der Saga-Dichter handeln kann.

Der Name dieser Gottheit ist Thorgerd Hölgibrudhi (oder korrekter: Þorgerðr Hölgibrúðr), was wörtlich mit „Thorgerda, Hölgis Braut (bzw. Frau)“ übersetzt werden kann. Der prominenteste Verehrer dieser Göttin war der mächtige Jarl Hákon, der von 970 bis 995 im norwegischen Halogaland herrschte und der dem bereits von der Mission arg bedrängten Heidentum zu neuem Aufschwung verhalf.

Die erste Belegstelle handelt von dem Aufbruch eines gewissen Sigmund Brestisson zu einer nicht ungefährlichen Seereise, und Jarl Hákon will ihn dafür göttlichen Schutzes versichern:

„So gab der Jarl Sigmund das Geleit und fragte: ‚Was meinst du jetzt zu allem und auf wen setzt du dein Vertrauen?‘ Sigmund antwortete: ‚Ich vertraue auf meine Kraft und Stärke.‘ Der Jarl sprach: ‚Das geht nicht. Du musst dein Vertrauen auf das Wesen setzen, dem ich wohl vertraue, und das ist Thorgerd Hölgisbraut. Wir müssen zu ihr gehen und dort dein Heil versuchen.‘ Sigmund stellte ihm das anheim. Und nun gingen sie auf einem Pfade zum Walde und dann weiter auf einem kleinen Seitensteg. Sie kamen auf eine Lichtung, und dort stand ein Haus, das von einem Zaun von Pfählen umgeben war. Dies Haus war sehr schön. Mit Gold und Silber waren dessen Holzschnitzereien verziert. Hakon und Sigmund gingen mit nur wenigen Leuten in das Haus. Viele Götterbilder waren darin und manche Glasfenster am Hause, so dass es nirgendwo Schatten gab. Eine prächtig geschmückte Frau war im Hause, gerade dem Eingang gegenüber. Der Jarl warf sich ihr zu Füßen und lag lange so da. Dann stand er auf und sagte zu Sigmund, sie müssten der Frau ein Opfer darbringen und Silber auf den Stuhl vor ihr niederlegen. ‚Aber daran werden wir sehen‘, sagte Hakon, ‚wie sie unser Opfer aufnimmt und mir zu willen ist: ob sie den Ring loslässt, den sie in ihrer Hand trägt. Dieser Ring wird dir, Sigmund, Glück bringen.‘ Der Jarl versuchte den Ring zu nehmen, aber es dünkte Sigmund, als ob die Frau ihre Hand zu einer Faust ballte, und der Jarl bekam den Ring nicht. Der Jarl warf sich noch einmal vor ihr nieder, und Sigmund sah, dass er weinte. Dann erhob er sich wieder und griff noch einmal nach dem Ringe. Jetzt war er lose. Der Jarl gab Sigmund nun den Ring und sagte, er dürfe sich nie von diesem Ringe trennen. Und Sigmund versprach es.“

Færeyinga saga, Kap. 23

Die Existenz des Heiligtums, das hier in der Nähe Trondheims angesiedelt ist, gilt in der Forschung durchaus als glaubhaft. Die Beschreibung des Tempels mit Glasfenstern aber erinnert eher an kontinentale Kirchen, die es in der Form in Norwegen nicht gab. Auch einige andere Details könnten eher romantische Ausschmückung aus späterer Zeit sein, hier vor allem die Art des Betens. Das aber muss nicht der Fall sein, sondern hier könnte im Gegenteil auch einer der wenigen Hinweise tiefer persönlicher Frömmigkeit und inniger Verbindung mit einer Gottheit vorliegen, wie sie sonst aus Erwähnungen von Opferfeiern nicht hervorgeht, die teilweise doch eher wie ein nüchterner Geschäftsabschluss mit den Göttern wirken.

Die zweite Belegstelle spielt während der Schlacht im norwegischen Hjörungerfjord im Jahr 986, den Quellen nach eine der spektakulärsten Seeschlachten der Wikingerzeit, als die norwegische Flotte unter Jarl Hákon sich des Angriffs der dänischen Jomswikinger erwehren musste. Nach Bericht der Saga kämpften dabei auf norwegischer Seite 300 Schiffe, denen über 120 Kriegsschiffe größter Bauart der Jomswikinger entgegenstanden.

„Da hatte auch Jarl Hakon das ganze Heer an Land gesetzt, und so entstand nun eine Pause im Gefecht, und der Jarl fand sich mit allen seinen Söhnen zusammen. Jarl Hákon sprach: ‚Es sieht mir so aus, als ob der Kampf anfängt, gegen uns auszufallen. Ich befürchte das Schlimmste davon, mit diesen Leuten zu kämpfen, und nun kommt es auch dahin. Auf diese Weise werden wir kein Glück haben, wenn wir nicht irgendeinen guten Rat finden. Ich will aufs Land gehen, ihr aber passt inzwischen mit dem Heere auf, wenn sie angreifen sollten.‘ Nun ging der Jarl auf die Insel hinauf und wanderte fort in den Wald, warf sich auf die Knie nieder und betete und schaute nach Norden. Mit seinen Gebeten kam es darauf hinaus, dass er seine Schützerin Thorgerd Hölgabrud anrief. Aber sie wollte seine Bitte nicht hören und war zornig. Er bot ihr mancherlei zum Opfer an, aber sie wollte nichts annehmen, und es dünkte ihn hoffnungslos. Es kam soweit, dass er ihr Menschenopfer anbot, aber sie wollte es nicht annehmen. Er bot ihr zuletzt seinen sieben Jahre alten Sohn, der Erling hieß, und den nahm sie an. Der Jarl übergab den Knaben nun seinem Knecht Skopti; und der ging hin und brachte den Knaben um. Darauf begab sich der Jarl zu seinen Schiffen zurück und spornte nun sein Heer von neuem an: ‚Ich weiß jetzt gewiss, dass uns der Sieg beschieden ist; geht nun umso besser vor. Denn ich habe den beiden Schwestern Thorgerd und Irpa für unseren Sieg ein Gelübde getan.‘ Nun ging der Jarl auf sein Schiff, und sie rüsteten sich aufs neue. Und darauf ruderten sie zum Angriff. Aufs neue erhob sich da nun der grimmigste Kampf. Und bald begann es im Norden dick am Himmel heraufzukommen, und es bezog sich schnell. Auch ging der Tag zur Neige. Demnächst prasselten Blitze und Donner, und dann setzte ein heftiger Schneesturm ein. Die Jomswikinger hatten gegen das Wetter zu streiten. Der Schneesturm war so ungeheuerlich, dass die Männer kaum aufrecht stehen konnten. Die Männer waren aber vorher aus den Kleidern gefahren, der Hitze wegen, und nun fing es an kalt zu werden. Dennoch setzten sie den Kampf ohne Fehl fort. Aber wenn auch die Jomswikinger Steine oder Waffen schleuderten oder mit Speeren schossen, warf der Sturm dies alles auf sie zurück und dazu den Geschosshagel ihrer Feinde. Havard der Schläger sah zuerst Hölgabrud im Heere Jarl Hakons und viele andere hellseherische Männer. Und als der Schneesturm etwas nachließ, sahen sie, dass von jedem Finger der Unholdin ein Pfeil flog und jeder einen Mann traf, und sie sagten es Sigvaldi. Und er sprach: ‚Mir scheint, dass wir nicht gegen Menschen allein kämpfen; aber doch ist notwendig, dass jeder leiste, soviel er kann.‘ Als der Schneesturm etwas nachließ, rief Jarl Hakon zum andern Mal zu Thorgerd und sagte, er habe es sich viel kosten lassen. Da fing es zum zweiten Mal an, finster zu werden von einem Schneesturm, und der war nun viel größer und schwerer als vorher, und gleich zu Beginn des Unwetters sah Havard der Schläger, dass zwei Weiber auf das Schiff des Jarls gekommen waren und beide dasselbe Gebaren hatten. Da sprach Sigvaldi: ‚Jetzt will ich fortfliehen, und das sollen alle meine Mannen tun. Das haben wir nicht gelobt, gegen Hexen zu kämpfen; auch ist es jetzt umso schlimmer als vorher, da es nun zwei Unholdinnen sind.‘“

Jómsvíkinga saga, Kap. 15

Die hier erwähnte Irpa wird teilweise auch in den anderen hier vorgestellten Berichten als ebenfalls göttlich verehrte Schwester der Thorgerd erwähnt, hat in all diesen Erzählungen aber eine reine Statistenrolle. Sonst weiß man gar nichts über sie. Ihr Name lässt sich wahrscheinlich von jarpr (dunkelbraun) ableiten. Sie allein deshalb aber als „Erdgöttin“ zu betrachten, dürfte sehr voreilig sein. Das grausam wirkende Opfer des eigenen Sohnes an die Thorgerd wird von der Forschung durchweg angezweifelt und einer dem Heidentum ablehnend eingestellten christlichen Ausmalung verdächtigt. Möglich ist aber auch eine Weihung des Sohnes, die nicht immer ein Menschenopfer bedeutete, sondern einen künftigen, speziell dieser Gottheit geweihten Dienst des so Geweihten meinte.

Es gibt weitere Berichte. In Flateyarbók (I, 123) findet sich die Geschichte, wie Jarl Hákon sich für Ungemach an dem Skalden Thorleif rächt. Dazu beschwört Hákon abermals Thorgerd und ihre Schwester Irpa für ein Werk schwärzester Zauberei. Aus einem Holzstamm schnitzte man gemeinsam eine menschliche Figur, in die man das Herz eines getöteten Mannes einfügte. Der Holzmann wurde auf die Füße gestellt und durch Zauberei dazu gebracht, dass er reden und gehen konnte. Hákon gab ihm nun den alten Speer Hölgis, der im Tempel der Thorgerd aufbewahrt wurde und schickte die Spukgestalt nach Island, wo sie auftragsgemäß Thorleif mit dem Speer durchbohrte.

Die Njáls saga (Kap. 88) weiß zu berichten, dass auch im Gudbrandstal (das sich oberhalb Oslos nach Norden erstreckt) ein Tempel der Thorgerd stand, der Hákon und Gudbrand selbst gehörte. Ein übel beleumundeter Zeitgenosse, Viga Hrappr (d.h. Totschlags-Hrapp), beraubt die Götterfiguren ihres Goldschmucks und steckt den Tempel danach in Brand. Der Bericht erwähnt, dass im Tempel nicht nur Figuren der Thorgerd und Irpa, sondern auch eine von Thor – auf seinem Wagen fahrend dargestellt – stand. Der Beschreibung nach waren das lebensgroße Statuen, die nicht nur mit Goldringen geschmückt, sondern wohl auch mit echter Kleidung angetan waren. Der Text im Wortlaut:

„Damals war Jarl Hákon zu einem Gelage bei Gudbrand gezogen. In der Nacht ging der Mords-Hrapp zu dem Gotteshaus des Jarls und Gudbrands. Er trat in das Haus ein. Er sah die Thorgerd Hölgabrud sitzen, die war so groß wie ein erwachsener Mann. Sie hatte einen großen Goldring am Arm und eine Leinenhaube auf dem Kopf. Er zog ihr die Haube weg und nahm ihr den Goldring ab. Da sah er Thor auf seinem Wagen und nahm ihm einen zweiten Goldring ab. Einen dritten nahm er von der Irpa und schleppte die Bildnisse alle hinaus und nahm ihren ganzen Anzug an sich. Darauf legte er Feuer an das Gotteshaus und verbrannte es. Hernach ging er fort. Eben wurde es Morgen […] Jarl Hákon und Gudbrand gingen diesen Morgen früh zu dem Gotteshaus und fanden es verbrannt und die drei Götter draußen, ihres ganzen Schmuckes bar. Da ergriff Gudbrand das Wort: ‚Große Macht ist unseren Göttern verliehen, dass sie selbst aus dem Feuer herausgegangen sind!‘ – ‚Das werden nicht die Götter getan haben‘, sagte der Jarl: ‚ein Mensch wird den Tempel verbrannt und die Götter herausgetragen haben. Aber die Götter rächen nicht alles auf der Stelle.‘“

Njáls saga (Kap. 88)

Natürlich wird die Verfolgung des Übeltäters sofort aufgenommen, bei der die Saga ein interessantes Details zu berichten weiß:

„Da trug ihnen der Jarl auf, nach ihm zu suchen, aber sie fanden ihn nicht. Der Jarl selbst half bei der Suche und sagte nun, sie sollten vorerst ausruhen. Der Jarl ging allein von allen Männern fort und sagte, niemand dürfe mit ihm gehen, und blieb eine Weile aus. Er fiel auf die Knie und hielt die Hände vor die Augen. Dann ging er zu den anderen zurück. Er sagte zu ihnen: ‚Kommt mit mir!‘“

Njáls saga

Hier scheint der Jarl eine Trancetechnik anzuwenden, um Informationen über den Aufentahlt des Tempelschänders zu erlangen. Sie funktioniert in der Saga auch, denn kurz darauf trifft man auf den Bösewicht, der im weiteren Verlauf der Saga auch sein wohlverdientes Ende findet.

Ein weiterer Bericht in der Harðar saga (Kap. 19) wird insgesamt eher skeptisch beurteilt. Dort wird nämlich gesagt, es habe auch auf Island einen Tempel der Thorgerd gegeben, die in dieser Saga die Schwester eines ziemlich gespenstischen Wikingers namens Soti ist, dessen Grabhügel von Hörd zuvor aufgebrochen und beraubt wurde. Der Gode Grimkell ist einer ihrer eifrigen Verehrer und sucht den Tempel häufig auf, um Thorgerds Rat zu suchen. Bei einem seiner Besuche sieht er nun plötzlich, wie sich die Götterbildnisse selbst im Tempel zur Abreise rüsten und muss erfahren, dass Thorgerd ihm ihren Schutz entzieht, um zu seiner Tochter „überzugehen“. Vor Zorn darüber steckt Grimkell den Tempel in Brand, was er lieber hätte unterlassen sollen, denn noch am selben Abend ist er ohne erkennbaren Anlass tot. Der Text im Wortlaut:

„Grimkel ging zum Tempel der Thorgerd Hölgabrud und wollte für Thorbjörgs Ehe beten. Als er aber in den Tempel kam, da waren die Götter in großer Bewegung und im Aufbruch von ihren Altären. Grimkel fragte: ‚Was hat das zu bedeuten, und wohin soll’s gehen? Wem wollt ihr nun Heil bringen?‘ Thorgerd antwortete: ‚Kein Heil werden wir Hörd bringen, denn er hat meinem Bruder Soti einen guten Goldring geraubt und ihm manch anderen Schimpf angetan. Eher möchte ich der Thorbjörg Heil bringen, denn über ihr steht ein so helles Licht, dass ich fürchte, das wird uns [d.h.: dich und mich] trennen. Du aber hast nur noch eine kurze Frist zu leben.‘ Da ging Grimkel fort und war auf die Götter sehr zornig. Er ging heim, holte Feuer und verbrannte den Tempel mit allen Göttern und sagte, sie sollten ihm nicht noch einmal Unglück ansagen. Und als man am Abend bei Tische saß, da fiel der Gode Grimkel plötzlich tot hin. Er wurde südlich vom Hofe bestattet.“

Harðar saga (Kap. 19)

In Kap. 36 der Saga unterliegt der Titelheld Hörd seinen Feinden, und zwar indem „die Heerfessel über ihn kommt“. Diese Heerfessel wird als mythische Personifizierung lähmenden Entsetzens gedeutet, und wurde dem Glauben nach einem Menschen von walkürenhaften Frauen oder Disen übergeworfen. Auch im Merseburger Zauberspruch findet das seine Entsprechung. Zwar wird in der Szene nicht ausdrücklich gesagt, dass Thorgerd die Urheberin dieser Heerfessel ist, aufgrund ihrer Auskunft in der oben zitierten Stelle ist es aber sehr wahrscheinlich, dass die damaligen Zuhörer das so verstanden..

Der Grund für die Skepsis, die man der Saga bezüglich ihrer historischen Hintergründe – und hier vor allem der Existenz eines Tempels der Thorgerd auf Island – entgegenbringt, fasst der Übersetzer Friedrich Ranke im Kommentar zusammen: „Die Neigung des späteren Bearbeiters lässt sich deutlich erkennen: er liebt das Fantastische, Märchenhaft-Gruselige […] Die Geschichte von Hörd führt uns mitten in die Phantasiewelt der erfundenen, mythischen und romantischen Erzählungen […] Thorgerd Hölgabrud gestaltet das Motiv der Todansage nicht im Stil der klassischen Bauernerzählungen, sondern im Geschmack einer Zeit, die sich aus dem Heidentum der Vorfahren den phantastischen Aufputz für ihre an seelischen Problemen ärmeren Geschichten holte. Bei der Heerfessel, der zauberhaften Lähmung, mit der Hörd in seinen letzten Augenblicken zu kämpfen hat, möchte man zweifeln, welcher Schicht sie angehört; der Ton dieser Szene ist so stark und heldenliedhaft […].“ (S. 16 f.)

Wenn man den zwei letztgenannten Belegen noch einen weiteren Bericht aus Flateyarbók (I, 407-409) zugesellt, nach dem der missionswütige König Olaf Tryggvason den Tempel Thorgerds beraubt und ihr Bildnis verbrannt haben soll, bekommt man den Eindruck, dass hier die Erinnerung an einen tatsächlichen Tempelbrand vorliegt, der wahrscheinlich in die gewalttätige Phase der Bekehrungsgeschichte Norwegens fällt und die danach auf unterschiedliche Weise literarisch verarbeitet wurde. Bei dieser Episode weist Olaf übrigens schadenfroh darauf hin, wie „lieb“ Hákon die Thorgerd gewesen sei. Dabei könnte ein weiteres Motiv durchschimmern, das in der Skaldik mehrfach angedeutet wird, dass nämlich der Herrscher als symbolisch mit der Schutzgöttin des Landes vermählt angesehen werden konnte und der Segen des Herrschers über das Land dieser Quelle entsprang.

Was lässt sich nach all dem nun endgültig über die Figur der Thorgerd sagen?

Es muss sich um eine nur lokal verehrte Gottheit gehandelt haben. Die Hinweise auf einen Tempel auf Island wirken eher fiktiv, die auf die zwei Tempel bei Trondheim und im Gudbrandstal dagegen überzeugender. Aber auch Snorri weiß Interessantes zu berichten:

„Es ist überliefert, dass jener König Hölgi, nach welchem Halogaland benannt ist, der Vater der Thorgerd Hölgabraut war. Ihnen beiden wurden Opfer dargebracht und der Grabhügel Hölgis wurde aus abwechselnden Schichten von Gold oder Silber – das war das Opfergeld – und von Erde und Steinen hergestellt.“

Skáldskaparmál 42

Seltsam nur, dass Hölgi hier als Vater und nicht als Mann der Thorgerd bezeichnet wird. Bei Saxo dagegen wird sie dem Namen gemäß als Frau Hölgis dargestellt. Zwar ist nicht mit letzter Sicherheit festzustellen, ob diese Thorgerd mit der von Hákon Verehrten identisch ist, denn alle Bestandteile des Namens Thorgerðr Hölgabruðr dürften häufig vorgekommen sein. Gerade die menschliche Natur des Namens macht aber deutlich, dass hier mit großer Wahrscheinlichkeit eine wirkliche, menschliche Frau Vorbild war. Es spricht also einiges dafür, dass sie möglicherweise eine Ahnfrau Jarl Hákons war. Hier lediglich ein markantes Beispiel für Ahnenverehrung anzunehmen, würde bei der Art der beschriebenen Verehrung aber zu kurz greifen. Vielleicht haben wir hier also ein gutes Beispiel für den Disenkult, denn in den Disen vermutet man ja die menschlichen Ahnfrauen der Familie. Möglich wäre auch ihr Charakter als Fylgja des Geschlechts von Hákon, denn die Fylgja ist auch für Sippen, nicht nur für Einzelpersonen bezeugt. Und diese Theorie würde sich mit der Annahme ihrer Natur als Ahnfrau keineswegs ausschließen. Grimm wiederum vermutete, Thorgerd und Irpa seien ursprünglich Völven, menschliche Seherinnen gewesen, die so berühmt waren, dass sie nach ihrem Tode verehrt worden seien und verweist auf die Parallele der kontinentalen Veleda, die in einem Turm lebte und auch zu Lebzeiten bereits überirdische Verehrung genoss.

Ihre Hilfe im Kampf gegen die Jomswikinger wie auch bei der Heerfessel Hörds hat aber auch etwas Walkürenhaftes und erinnert an die Idisen des Merseburger Zauberspruches, die ebenfalls als Kampfhelferinnen dargestellt sind. Dazu kommt, dass ihr Beiname auch anders überliefert ist, nämlich als Thorgerd Hölgatroll (oder Hörgatroll). Auch die spätere Volkstradition scheint sich ihrer „Trollnatur“ erinnert zu haben (siehe die oben erwähnte Quelle über die zauberische Belebung des Holzmannes). In einer weiteren Quelle bittet eine Hexe (trollkona), man möge sie jetzt nicht aufhalten, denn sie sei auf dem Weg zu einer Zauber- oder Hexenversammlung (trollaþing), und unter den Namen der Teilnehmer, die die Hexe daraufhin aufzählt, befindet sich auch Thorgerda Hörgatroll. Der Begriff „Troll“ ist erst in nachmittelalterlichen Märchen zu einem Synonym für „Riese“ geworden. Die ursprüngliche Bedeutung aber scheint die eines dämonischen und schadenszauberischen Wesens im Sinne von „Hexe“ gewesen zu sein. Für diese Wesen der niederen Mythologie gab es zahlreiche weitere Begriffe: Nachtreiterin, Abendreiterin, Dunkelreiterin, Dachreiterin, Trollweib usw. Das aber kann schwerlich die ursprüngliche Natur Thorgerds gewesen sein, denn dass Hákon Trolle und Hexen angebetet hätte, ist völlig unwahrscheinlich, da er außer Thorgerd auch eifrig Thor und Odin opferte. Er scheint zu dieser Thorgerd aber wohl mehr Vertrauen gehabt zu haben. Aber von Anfang an scheint ihr für andere etwas Unheimliches angehaftet zu haben. Diese Züge dürften kaum einem späteren christlichen Einfluss zuzuschreiben sein, denn sonst hätte man in diesen Erzählungen die anderen heidnischen Götter ja auch entsprechend düster und abstoßend dargestellt, was aber nicht der Fall war.

Obwohl Thorgerd also sehr viel häufiger erwähnt wird als manch andere Göttinnen der altnordischen Welt, ist ihre Natur dennoch schwer zu durchschauen. Es ist dieser Undurchschaubarkeit wegen sogar vermutet worden, sie sei eine vorgermanische Gottheit einer skandinavischen Urbevölkerung. Letzteres aber ist Außenseitermeinung und eher unwahrscheinlich. Wenn es aber stimmt (und die Quellen legen das nahe), dass es Hákon war, der ihren wohl ursprünglich in und um Trondheim beheimateten Kult bis ins Gudbrandstal verbreitetete (und durch Auswanderer möglicherweise sogar bis nach Island, obwohl diese Aussage nicht glaubhaft wirkt), ist das ein interessantes Zeichen dafür, dass sich auch in solch später Zeit örtlich begrenzte Kulte durch rein politische Verhältnisse ausgedehnt haben können. Das könnte dann auch in Bezug auf frühere Zeiten ein hilfreicher Ansatz bei der Frage nach Geographie und Ausbreitung einzelner Kulte sein.

Literatur

Die deutschen Übersetzungen der Sagatexte wurden nach folgenden Ausgaben zitiert, wobei entscheidende Stellen noch einmal mit dem altnordischen Originaltext verglichen wurden:

Færeyinga saga
Die Geschichte von den Leuten auf den Färöern. In: Grönländer und Färinger Geschichten. Übertragen von Felix Niedner. Jena: Diederichs 1912. (Sammlung Thule. Bd. 13)

Jómsvíkinga saga
Die Geschichte von den Seekriegern auf Jomsburg. In: Die Geschichten von den Orkaden, Dänemark und der Jomsburg. Übertragen von Walter Baetke. Jena: Diederichs 1924 (Sammlung Thule. Bd. 19)

Njáls saga
Die Geschichte vom weisen Njal. Übertragen von Andreas Heusler. Jena: Diederichs 1922 (Sammlung Thule. Bd. 4)

Harðar saga (Holmverja saga)
Die Geschichte von Hörd dem Geächteten. In: Fünf Geschichten von Ächtern und Blutrache. Übertragen von Andreas Heusler und Friedrich Ranke. Jena: Diederichs 1922 (Sammlung Thule. Bd. 8)

Erschienen 2004 in Herdfeuer 6

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